18.1.2018 – Rechnung – Antwort

(irgendwas mit ganz schön tief und lang geschlafen)

Wegen des anstrengenden Teils des Wochenendes habe ich mir noch einen Tag frei genommen. (Angenehmerweise kann der angenehme Teil so auch noch ein bisschen besser nachklingen.)

Dementsprechend war aber auch heute nix los und ich nutze Zeit und Platz, um mal über zwei Dingsis nachzudenken, die mir in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen in den letzten Wochen in die Timelines gespült wurden.

Es geht um Folgendes; eins auf Twitter und eins auf Instagram:

Mir ist übrigens vollkommen egal, wer das getwittert oder erfunden hat, kein Urheberinnenblaiming intended. Ich betrachte beides als ein Symptom, das mich zum Nachdenken gebracht hat. Und falls Ihnen das Dings auf dem rechten Bild nicht begegnet ist, dann finden Sie doch für sich mal eine Antwort und lesen bis unten. Da löse ich’s auf.

Und ich muss etwas vorausschicken: Vor meinem Leben als Internetfuzzi habe ich in veschiedenen Funktionen für verschiedene Jugendämter gearbeitet. Um an protestierende Jugendliche wenigstens etwas heranzukommen benutzten wir oft das Vehikel „Nachhilfe“; so saß ich also auch oft in Jugendzimmern (falls vorhanden) oder irgendwelchen städtischen Räumen und paukte Stoff aus Klasse 6-10, um dabei ins Gespräch über anderes zu kommen. Vorgeschichte Ende.

Vermutlich wir alle kennen den Spaß: „Ein Bauer hat 40 Kühe und 15 Schweine. Wie alt ist seine Frau?“
Damit kann man doch – laut Tweeet – arbeiten, das ist eine solide Frage.
Käme dann nicht tatsächlich die Antwort: „Ähm … – 55?!
Und, leider: Das ist kein Spaß. Das ist Realität.

Ich habe exakt solche Situationen erlebt, mehrfach, vielfach und vollkommen reproduzierbar. Denn ich habe quasi nur mit Jugendlichen gearbeitet, die im (Mathe-)Unterricht nicht gelernt hatten, warum sie das alles da taten. Und die deswegen nicht begriffen, warum die Frage nach dem Alter der Bäuerin ein Spass sein musste.
Mathematik war für sie nur irgendetwas, was man mit Zahlen tun musste, warum auch immer. Und zwar nur, um in der nächsten Arbeit eine Note zu schaffen, die keinen großen Ärger bedeutete.
Jugendliche also, die mich ratlos anschauten und dann der Reihe nach versuchten abzurufen, was ihnen aus Mathe noch hängengeblieben war – erstmal meist Plus, Minus, Mal, Geteilt.
Deswegen gehen die Antworten auf die Frage nach dem Alter auch so weiter: 55? — Nein. — Ah! 35! — Nein, auch nicht, denk mal nach! — Ach soo … Menno, malnehmen mit 15 kann ich aber nicht im Kopf, 40 mal 15 ist zu schwer!!

Ja sicher, sagen Sie jetzt vielleicht – das waren ja offensichtlich auch dumme Kinder, sonst hätten sie ja keine Nachhilfe vom Jugendamt gebraucht. Aber: Wir alle schalten ab, wenn wir ein Thema uninteressant finden, wenn wir darin keinen Sinn mehr sehen. Viele von uns nur später als bei den Textaufgaben der dritten Klasse und dann nennen wir es halt „das überfordert mich halt“ oder „das braucht ja auch kein Mensch“ oder „Dreisatz konnte ich noch nie“. Das ist nämlich einfach nur menschlich.

Jetzt kann man auf dieses Phänomen natürlich damit reagieren, dass man halt einfach die Frage immer dazu stellt; die richtige Frage natürlich und nicht so eine Jux-Antwort wie die nach dem Alter.
Im Ergebnis macht man Mathe damit aber noch weiter zu einer vom Alltag vollkommen abgekoppelten Fachdings; etwas, was man nie braucht, ausser in den Mathestunden.

Oder man koppelt den Matheunterricht an: An andere Fächer, an das Leben im allgemeinen. Denn: Überraschenderweise lernen Menschen egal welchen Alters besser, wenn sie den Sinn verstehen. Und Sinn bekommen wir nur im Kontext, im Kontext mit unserem eigenen Leben.
Wenn Sie mir das nicht glauben kommen Sie gerne vorbei, dann bringe ich Ihnen Programmieren* bei. Ohne Kontext; it’s gonna be fun!

Ebenfalls überraschenderweise gilt das für Physik, Chemie und andere Naturwisschenschaften genau so.

Aber wie Kontext schaffen?
Ich skizziere mal wild drauf los, mir kommt spontan ein Beispiel das Deutsch, Erdkunde, Mathe, Kunst und Biologie verknüpft. Ist doch ein Anfang.
Meine Lehramtsstudien sind lange her, verzeihen Sie mir, wenn es etwas ungenau ist.

Statt also die aufgezählten Fächer einzeln zu lernen, gibt es – jeweils wochen- oder monateweise – Themen. Bleiben wir bei der Bäuerin und nehmen also das Thema „Landwirtschaft“. Es beginnt mit einem Ausflug zu einem Bauernhof, damit alle Kinder wissen, um was geht. Mit Tiere-Anfassen und riechen und in der Gülle waten und Weizen kauen.
Wieder in der Schule schreiben (Deutsch!) die Kinder „Bücher“ über den Bauerhof. Dabei gibt es Leitfragen die vorkommen müssen – nämlich: Wo gibt es Landwirtschaft und warum? (Erdkunde) Wie viele Kühe und wie viele Höfe braucht man, um Deutschland mit Milch zu versorgen? (Mathe) Wie leben Kühe überhaupt so? (Bio) Malt den Bauerhof (Kunst).
Die Aufgaben lassen sich natürlich jeweils von Grundschule bis Richtung Abi skalieren.**

Das hab ich mir übrigens natürlich nicht gerade aus der hohlen Hand geschüttelt, sondern das gibts im Prinzip. Aber da in Deutschland Reformen im allgemeinen und in der Schule im besonderen ja immer skeptisch begleitet und höchstens viertelherzig umgesetzt werden – vor allem wenn sie von preußischen*** Tugenden weg führen sollen – passiert so etwas meist nur während der Projektwoche****.

Dabei ist das Prinzip so unfassbar einfach, denn es spiegelt einfach nur wieder, was das Leben uns so gibt: Eine Menge unterschiedlichster Gesichtspunkte, unter denen man jedes Thema betrachten kann.

Die Diskussion, die sich zu dem oben zitierten Tweet entspann, bildete übrigens genau das ab. Natürlich gab es Menschen, die einfach empört fanden, dass die Frage fehle. Ich bekam aber auch zum Beispiel einen Diskussionsstrang mit, in dem über angemessenes Taschengeld für Drittklässler diskutiert wurde und einen, in dem man sich darüber unterhielt, ob Drittklässler überhaupt so lange sparen können oder ob ihnen dafür Durchhaltevermögen und Zeitvorstellung fehlen. Wie großartig! Man kann das bestimmt auch mit Drittklässlern selbst überlegen.

Funny coincident: Während ich diesen Artikel hier schrieb, wurde mir folgendes Video reingespült (Danke an Cynthia dafür, das Timing hätte nicht besser sein können!)
Sechs Minuten also, wo jemand der weitaus klüger ist als ich eigentlich exakt das gleiche sagt. Nur etwas radikaler.

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Ach ja, die Auflösung von oben. Was haben Sie raus? Einer, weil vier von fünfen ja tot sind? Zwei, weil vier ja tot sind und Sie daran gedacht haben, dass Sie selbst im Raum sind? Fünf, weil für Sie Leute auch noch Leute sind, wenn Sie erschossen am Boden liegen? Sechs, weil tote Leute plus Sie selbst? Acht, weil die beiden Polizisten, die zufällig vorbei kommen angelaufen kommen, wenn sie die Schüsse hören?
Leider alles falsch.
Das Spielchen beweist nämlich, dass wir eigentlich keine Fachidioten sein wollen und auch keine Fachidiotenfragen beantworten wollen. Schauen Sie also genau hin: Die Frage lautet: „Kannst Du das beantworten?“ und nicht „Wie viele Leute sind danach im Raum?“ Die Antwort also – je nachdem, was Sie sich so zutrauen: „ja“ oder „nein“.
Ja, so hab ich auch geguckt.

Warum ich das alles schrieb? Vor allem, wenn es doch alles bekannt ist?
Ach, vielleicht denken Sie ja dran, wenn Ihr Kund Ihnen das nächste mal aus der Schle irgendetwas erzählt, was nicht nach „Hard facts lernen“, sondern nach pädagogischem Heititei klingt. Wenn Sie die richtige Schule für Ihr Kind suchen. Wenn Ihr Kind überlegt, ob es eine Ausbildung abbricht und etwas anderes lernen möchte. Wenn es ein FSJ machen möchte. Sie verstehen schon.

*) Falls Sie programmieren können, dann eben Musiktheorie. Und Marc und Anne halten jetzt den Mund.

**) Voll schön wird es, wenn jedes Kind das dann alleine oder paarweise oder in der Gruppe machen kann. Weil überraschenderweise auch Kinder unterschiedliche Arbeitsgeschwindigkeiten und -vorlieben haben.

***) Wussten Sie, dass unser Schulsystem vom Grundprizip noch auf Ideen Bismarcks zurück geht? Dass wir schön in soziale Schichten hinein Arbeiter, Beamte und Professoren ausbilden?

****) Sind die Projektwochen auch noch etwas, an das Sie sich gerne zurück erinnern? Tja.

Du findest gut, wenn ich hier so rumphilosophiere?
Hier kannst Du mir ’ne Mark in die Kaffeekasse werfen!

4 Kommentare

    1. @Anne: Merci. Hihi (Für Mitlesende – ich weiß von Anne, dass sie sowohl programmieren kann als Musiktheorie draufhat)

  1. Ich hab durch die „Beutekinder“ (die Kinder meiner Frau) auch schon, ohne leiblicher Vater zu sein, Kontakt mit LehrerInnen gehabt, wo es um ihr Fach ging. Vom „fachfremden“ Englischlehrer, der „Please opening your books on pages 7“ sagt über die (u.a.) Erdkundelehrerin, die auf dem Elternabend meinte, die Schule sei gerade in einem Übergangsstadion bis zum Physiklehrer, der das Wort Artikulieren erst im dritten Anlauf artikulieren konnte haben mir alle gezeigt, dass sie so in praxi besser bei ihren Leisten bleiben.
    Denn wenn das so gemacht wird, wie Du (mehr als sinnvoll!) vorschlägst, dann müssten man Lehrer haben, die ausreichend deutsch können (und nicht nur in einem Übergangsstadion sind) und fachliche Ahnung haben.
    Und Schulmaterial, das nicht mit Aufgaben wie „Verena kauft 5 CDs. Jede CD kostete 6 Euro“ ein paar Meter neben Lebensrealitäten vorbei geht.
    Wenn man die Anzahl der Kühe berechnen will, die den deutschen Milchverbrauch erzeugen, muss man das Unterrichtsmaterial alle 3-4 Jahre anpassen, was zu neuen Ausgaben derselben Bücher mit unterschiedlichen Zahlen führt. Was den Schulen zuwider läuft, die dann alle paar Jahre die kompletten Bestände ausmisten und neu beschaffen und nicht ein seit 15 Jahren bewährtes Buch immer nur im Umfang der normalen Verluste nachkaufen müssen.
    Das wäre natürlich alles viel einfacher, wenn man in der Schule digital arbeiten könnte.
    Aber finde mal eine Gesamtschule, in der statt Overheadprojektoren und kopierten Folien irgendwelche Computer und Beamer und benutzt werden…

    1. Noone said, it would be easy.
      Und ich gebe mich nicht im geringsten der Vorstellung hin, dass man so etwas einfach mal eben machen könnte. Was ja aber nicht heißt, dass es nicht dringend nötig wäre …

Kommentare sind geschlossen.

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