Gestern auf der Bank am See die Pommes-auf-der-Bank-am-See-Saison eröffnet. Ich hatte mir vorgenommen, den ersten möglichen Termin zu ergreifen und das haben wir geschafft.
Den Tag mit Frau Doktor und der donnerstäglichen Spritze begonnen. Vor der Tür im Freiluftwartezimmer mit einer Frau gestritten, die allen anderen ungefragt erklärte, wir alle wären nur wegen der doofen Masken die eh nix bringen im Moment dauernd krank. Als ich widersprach, meinte sie, ich müsse mich halt mal besser informieren und das fühlt sich so sehr absurd an.
Wünschte, ich wäre schlagfertiger gewesen und hätte sie gefragt, warum sie zum Arzt rein will, wo sie Ärzten ja offensichtlich nicht glaubt.
Aber (Achtung, Überleitung aus der Hölle) apropos „Wünsche“: Vielen Dank für die vielen Fragen. Ich schreibe hier wirklich gern rein in dieses Blog und wenn ich nichts zu erzählen habe, das ist dann halt blöd. Und Sie helfen mir da gerade sehr!
Sie fragen, Christian antwortet
Ihre Meinung über ein gesellschaftliches Pflichtjahr
Das ist einfach: Ich bin da sehr für. … äh: Sehr dagegen. … äh: Es ist kompliziert. So wie ich das sehe gibt es zwei Hauptargumente, die die beiden „Lager“ anführen: „Es tut jedem Menschen gut, sowas mal gemacht zu haben und aus der Bubble geholt zu werden“ vs. „Ein Pflege-System darf nicht auf der Arbeit von unausgebildeten, unterbezahlten unfreiwillig Verpflichteten basieren, die auch noch alle 12 Monate wechseln“
Und ich finde beide Argumente vollkommen richtig.
Kurz nebenbei: Das Nebenargument, man stehle damit Menschen Zeit finde ich hingegen zynisch und blöd: Wir werden immer älter und wenn wir jemand Zeit stehlen, dann dem Kapitalismus junge Arbeitskräfte ohne Ahnung, die sich leichter ausbeuten lassen, weil sie noch nix vom Leben gesehen haben.
Aber zurück: Ja, ich bin ein alter weißer Mann, der von seiner Jugend schwärmt, wenn ich meine Zivildienstzeit glorifiziere. Aber ich weiß auch genau, dass ich schon damals – nach 15 Monaten Jugendtreff in einem sozialen Brennpunkt – sprachlos vor dem Verhalten der typischen upper-middleclass Primar-Lehramts-Studentinnen stand, die vor 3 Monaten noch auf der wohl-behüteten Schulbank saßen. Weil sie sich exakt so benahmen, wie sie es unter sich sein konnten: Rücksichtslos und unsensibel mit dem Blick auf alles nur aus ihrer eigenen, bis dahin immer sehr leichten Welt heraus und ohne eine Idee, dass es mehr Wahrheiten gab, als die vom FDP-Papi dozierten. (Sie verstehen, dass ich ein Klischeebild male, um eine Richtung deutlich zu machen?) Beispiel: Versuchen Sie mal einem solchen Menschen klarzumachen, dass die 65,- Zuzahlung zur Klassenfahrt eine unüberwindbare Hürde darstellen. Oder der gute Pelikan-Farbkasten halt nicht drin ist diesen Monat.
Nichts hat mich so in der Wirklichkeit geerdet wie mein Zivildienst und später mein Job als Mann vom Jugendamt (#14 hier).
Und ja, ich finde, dass es allen Menschen gut tut, über ihren eigenen Tellerrand zu sehen und auch mal auf die nicht so schönen Seiten unseres Lebens zu sehen. Das kann helfen, Menschen-Schicksale später nicht als Zahlen in einer Excel-Tabelle zu begreifen. Egal ob als Lehrerin, Bankberaterin oder Versicherungsfachangestellte.
Und ja, ich finde auch, dass wir alle eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber haben, wenn wir in der Gesellschaft leben wollen. Entgegen einer verbreiteten Meinung ist nämlich nicht jedem geholfen, wenn jede sich selbst hilft; das ist privilegiertes Wording für „ich mag halt nicht an andere denken“. Jedenfalls in unserer neoliberalen Gesellschaft.
Und deswegen muss ich vehement für ein solches Pflichtjahr sein.
So far so good, aber: Unsere gerade noch erwähnte neoliberale Gesellschaft neigt ja nun mal dazu, alles auf Teufel komm raus auf Kante genäht zu „optimieren“, bis der letzte Viertelcent heraus gepresst ist. Wir nennen das „just in time business“ oder „Prozessoptimierung“ und so lange nicht ein Schiff im Sueskanal steckenbleibt oder eine Pandemie dem Planeten ein Beinchen stellt ist das an der Oberfläche betrachtet auch halbwegs gelaufen. Das bedeutet aber auch, dass ich davon überzeugt bin, dass schon jemand die fertigen Personal-Einsparungspläne in der Schublade liegen hat für den Fall, dass irgendwo ein FSJler ankommt bzw dafür, dass ein VSJ („Verbindliches soziales Jahr“, selbst ausgedacht) beschlossen wird. Und auf diesen Zetteln wird für jeden VSJler eine Fachkraft entlasten, weil für diese Menschen eben Menschen nicht Menschen, sondern Nummern sind. Dummerweise wäre genau das ein Argument für so ein Jahr, damit solche Unmenschen aussterben, aber …
Das ist ein solches No-Go, dass ich vehement gegen ein gesellschaftliches Pflichtjahr sein muss.
Und jetzt weiß ich leider auch nicht weiter und hoffe nur, dass stimmt, was ich letztens auf einem hybschen Instagram-Sharepic las: dass es sexy wie nix Gutes ist, wenn jemand mal offen sagt, dass er keine Ahnung habe, denn:
Ich habe wirklich keine Ahnung.
Sie haben Fragen? Sie wünschen sich ein Thema, über das ich mal bloggen soll?
Schreiben Sie’s auf!
Alle bisherigen Antworten finden Sie übrigens hier.
Danke. Ich denke, das fasst es gut zusammen. Allerdings ziehe ich für meinen Teil den Schluss daraus, gegen ein solches Pflichtjahr zu sein – mit Rücksicht auf die Menschen, die solche widerwillig Kurzzeit Beschäftigten ungefragt ertragen müssten. Es sollte andere Wege geben, Empathie zu lehren. (Was die Lehrenden angeht, hast du m.E. völlig recht).
Ich tue mich schwer mit dem Schluss. In der aktuellen Situation auf jeden Fall dagegen, ja.
Und mein idealistisches Herz würde halt so gerne an der Situation was ändern …
Unbedingt dafür! In der Hoffnung, dass alle, die einen längerfristigen Einblick in die Verhältnisse bekommen dann auch dran drehen, dass es besser wird. Zb am Pflegesystem ändert sich nix, weil man gewöhnlicherweise nix damit zu tun hat, bis es zu spät ist. Wenn man dann schon mal mit jungen Jahren in der Katastrophe gestanden hat wird man dann hoffentlich sein Leben lang für eine Verbesserung des Systems sein und auch das Kreuzchen entsprechend machen.
Aber ich möchte mich da ausdrücklich als ahnungslos bezeichnen! In meinem Bekanntenkreis wählt aber keiner der ex –Zivis FDP
Ich habe während meiner Zivi Zeit (Abenteuerspielplatz sozialer Brennpunkt) nicht nur unfassbar viel gelernt und eine richtig gute Zeit gehabt sondern auch danach was Soziales studiert. Das wollte ich vorher gar nicht.
Wie gesagt: Unter dem Aspekt oder in einer auch nur etwas idealereren Welt: Sofort. Und ich bin auch sonst eher dafür, auch dann etwas Gutes anzustoßen, wenn die Umstände dafür noch nicht ideal sind, um den positiven Aspekt mitzunehmen.
Aber in diesem Fall bin ich so sicher, dass junge Menschen sofort ausgebeutet würden und der positive Aspekt nicht eintreten könnte, dass ich absolut dagegen sein muss.
Und es zerreist mich, dass der Kapitalismus in seinen Zuckungen mich dahin getrieben hat. Es ist ein Dilemma.
(Ich denke gerade über einen Satz nach, der in etwa lauten könnte: „Der Kapitalismus fährt die Taktik der verbrannten Erde auf seinem letzten Kampf“ und ich muss ihn noch etwas spitzer formuliert bekommen)
Ich finde, es ist eine Frage der Organisation wie ein solches Pflichtjahr begleitet und strukturiert wird, z.B. wer entscheidet welche Institution welche Bedingungen erfüllen muss, daß sie Pflichtjahr-Menschen einsetzen darf. Wie werden die jungen Leute eingesetzt. Es sollte begleitende Seminarwochen geben, die nicht von der Institution veranstaltet werden, sondern „übergeordnet“. Es sollte Beschwerdeinstanzen geben und geregelte Verfahren dafür … Damit könnte man die ganzen Argumente dagegen aushebeln.
Ja, wenn man das will, dann geht das.
Danke für Ihre Antwort, ich wusste, Sie bringen noch Punkte an, die ich noch nicht bedacht hatte ;o)
Ich persönlich fände eine Art Punktesystem ziemlich cool, dass z.B. mit der staatlichen Rente gekoppelt ist. Punkte können dann sehr varriabel erworben werden: Ehrenamt, Arbeit in einem gesellschaftlich relevanten Beruf, etc. pp
Mir geht es auch weniger darum, dass Leute über den Tellerrand schnuppern und erst reicht keine Fachkräfte ersetzen sollen, sondern, dass sie nach Möglichkeit auch etwas für die Gesellschaft tun, in der sie leben. Und das vielleicht auch nicht nur für einen begrenzten Zeitraum, sondern mehr oder weniger regelmäßig über das gesamte Leben verteilt…
: sondern, dass sie nach Möglichkeit auch etwas für
: die Gesellschaft tun, in der sie leben
Das finde ich – abseits aller aktuellen Gedanken und Diskussionen eine wirkli h schöne Idee Und ich merke daran, wie sehr mein Idealismus von der Realität korumpiert ist :(