Über Hochbegabung

Ich tue jetzt vermutlich etwas Dummes, ich schreibe jetzt über Hochbegabung. Dumm vermutlich, weil das ja eines dieser Eltern-Themen ist und da gehts ja manchmal heiß her. Na, mal sehen.

Auslöser war dann auch vor ein paar Wochen irgendwas bei Twitter – eine Situation in der mir einiges durch den Kopf schoss. Ein bisschen kenne ich mich da nämlich selbst aus und außerdem habe ich hier eine diplomierte Fachfrau im Haus.

Für alle, die nicht so im Thema sind folgt jetzt erst ein bisschen Hintergrundwissen, was Hochbegabung überhaupt ist.
Also: Man spricht von Hochbegabung, wenn ein IQ-Test einen Wert von 130 oder höher ergibt.
Hochbegabt sind 2,2% der Bevölkerung.

Fertig.

Ja wirklich, das war’s schon. Man kann das testen und es gibt ein eindeutiges Kriterium. Hat man es einmal erfüllt, kann es einem nicht mehr „aberkannt“ werden, hat man den „Test nicht geschafft“, kann man es nochmal probieren, aber das ist eigentlich nur sinnvoll, wenn man am Tag des Testes irgendwie nicht so auf der Höhe war.
Es sind auch nicht „rund um 2%“ und dieser Prozentwert ändert sich auch nicht im Laufe der Zeit, denn: Diese 2,2% sind die eigentliche Definition:
Der IQ-Wert von 130 wird von 2,2% der Bevölkerung erreicht. Da die Bevölkerung im Schnitt klüger wird (auch wenn’s anders aussieht, jaja…) wird der Wert angepasst. Einsteins Super-IQ zum Beispiel wäre, würde er heute gemessen, geringer.

Was bedeuten diese 130 Punkte? Kann man das irgendwie vergleichen? Ja, kann man. Die IQ-Skala arbeitet vereinfacht gesagt mit 15er Schritten. Der IQ-Durchschnitt der Bevölkerung liegt bei 100, auch das ist Teil der Definition. 15 IQ-Punkte, oder: „eine Standardabweichung“ nach oben sind es schon nicht mehr so viele, 30 nach oben (2 Standardabweichungen, „hochbegabt“) sind’s noch 2,2%.
Genauso geht’s nach unten: mit einem IQ von 85 war man früher ein klassischer Kandidat für die sogenannte „Lernbehindertenschule“, mit einem IQ von 70 ein Kandidat für den Stempel „geistig behindert“. Diese eindeutigen Klassifizierungen sind zum Glück heute aufgeweicht. Bei Bonobos wurden angeblich schon IQs um die 95 getestet.

Man kann das schön in einer Kurve darstellen – wer interessiert ist klickt hier.

Anmerkung 1: Andere Länder haben andere Modelle; z.B. die immer mal wieder kolportierten 154 IQ-Punkte von Sharon Stone haben nichts mit deutschen IQ-Werten zu tun. Wer das möchte könnte das aber meines Wissens umrechnen.
Anmerkung 2: Ja, ich kenne die Kritik an diesem Modell ebenso wie die Kritik am Intelligenzbegriff allgemein.

Ob man jetzt mit einer Hochbegabung zum nächsten Einstein wird oder sein Leben lang auf ganzer Front scheitert hängt nicht mit dem IQ zusammen; weder ein hoher noch ein niedriger IQ ist ein Garant für irgendwelche Leistungen.
Für Menschen, die überdurchschnittlich viel erreichen findet man gerne das Wort Hochleister. Ob jemand hochbegabtes Hochleister wird oder ein Hochleister einen hohen IQ hat – das hängt nicht zwingend zusammen.
Ich vergleiche den IQ zum Beispiel mit langen Beinen: Er ist eine körperliche Voraussetzung, die man (vermutlich) so von der Natur und den Genen mitbekommen kann. Was draus wird: wer weiß?
Vielleicht wird man – wenn man genügend übt – der nächste Usain Bolt; vielleicht stolpert man aber auch nur dauernd drüber.

Stolpern? Über einen hohen IQ? Ja. Die Fachfrau hat beruflich viel mit den Fällen zu tun, wo ein Kind eher darüber stolpert.
Wir denken zwar alle, dass „schlau sein“ eine supi Sache ist, aber mal ehrlich: Wer lacht nicht über Meta Benes großartige Zeichnung? Wer mochte die Klassenbesten? Warum ist Streber ein Schimpfwort?
Wer aus der Norm fällt, fällt auf – und eine Gruppe von gerade mal 2% ist definitiv nicht die Norm. In einem normalen Grundschuljahrgang mit drei Klassen sind das statistisch höchstens 2 Kinder. Und die lernen vielleicht dann eher die Klappe zu halten als sonst etwas.
Vielleicht solpert ein hochbegabtes Kind auch darüber, dass es den Unterrichtsplan der Lehrerin stört. Die muss ihren Unterricht nämlich so planen, dass alle Kinder zum Ende der Reihe ein gewisses Lernziel erreicht haben. Wer zu langsam ist, bekommt klassisch Förderunterricht; wer aber zu schnell ist hat oft Pech und muss den Mund halten, um die anderen nicht zu stören.
Die eigene Begabung nicht zeigen zu dürfen kann durchaus auch was mit einer Kinderseele machen.
Andere Hochbegabte stolpern darüber, dass sie einen tierischen Perfektionsanspuch haben und den Mund nicht aufkriegen, bevor sie ein Thema nicht vollständig durchdrungen haben. Wer den Mund nicht aufkriegt wird ironischerweise gern mal für dumm gehalten.
Und, und, und …

Viele Gründe also, dass es gerade für hochbegabte Kinder nicht leicht sein muss – erst Recht, weil ja jeder denkt, dass so ein Kind es leichter haben müsste.
Die Fachfrau sagte sogar mal sinngemäß: „Eltern die zu mir kommen und sich wünschen, dass ihr Kind hochbegabt sein soll, deren Kind ist es meist nicht. Eltern die Probleme erleben und Angst davor haben, deren Kinder sind es.

Natürlich muss das nicht unbedingt alles schiefgehen, wenn die Synapsen schneller arbeiten als beim Durchschnitt; ich will hier auch kein Mitleid schüren. Sondern dem Thema mal dies ganzen überhöhten Ansprüche und Vorurteile nehmen. In alle Richtungen.
Und ich will: Mal überlegen, woher es kommt, dass Hochbegabung gleichzeitig so erstrebt und so abgelehnt wird, wie ich es in Twitterdiskussionen erlebe – beides vielleicht nicht so angemessen

Denn trotzdem sagt die eine Hälfte der Twittereltern, dass ihre Kinder hochbegabt sind, die zweite Hälfte der Twittereltern findet das voll doof, während die dritte Hälfte verständnislos zuguckt.

Liebe Eltern, ich weiß, es ist nicht einfach heute. Man hat das Gefühl, man muss die Kinder für das spätere Leben so früh wie möglich so gut wie möglich vorbereiten. Gleichzeitig gibt es für jede Methode mit den eigenen Kindern umzugehen mindestens einen Ratgeber. Stillen oder nicht, impfen oder nicht, Tragetuch oder Wagen, Japanisch ab drei oder erst ab fünf oder gar nicht, eigenes Bett so früh es geht oder Elternbett so lange es sein soll, Schnuller, iPad ab drei oder ab achtzehn, autoritär, attached, buddy-style oder laissez-faire – es gibt Verfechter für alles. Und so wie wir es von Twitter gewohnt sind, wird dabei jedes Thema ungefähr so entspannt diskutiert wie die Schlacht um Verdun.

Ich weiß auch, man möchte gern stolz auf die eigenen Kinder sein und in Zeiten wo es absolut gar nicht hip ist, einfach mal in der Menge mitzuschwimmen, sollen die Kinder was Besonderes sein. Oder es soll aus ihnen mindestens mal was besseres werden – das ist ja auch vollkommen normal und spätestens seit Ramses II total üblich.

Aber einem Kind den Stempel hochbegabt aufzudrücken und dann zu hoffen, dass damit aus dem Kind etwas besseres wird – ist das klug? Zum einen: Wie oben beschrieben kann man das nachprüfen; Selbstdiagnosen hingegen sind wie meistens eher etwas problematisch.
Zweitens: Wie ebenfalls oben beschrieben ist Hochbegabung schon außerschulisch gar nicht unbedingt etwas positives.
Und zweitens b: Lehrerinnen und Lehrer sind oft gar nicht so dolle gut auf Hochbegabung eingestellt, sondern schon von „echten“ Hochbegabten eher angestrengt.
Deutsches Schulpersonal ist halt – wie ebenfalls erwähnt – meist eher dafür ausgebildet, die Norm zu bedienen und ist oft schon mit der Umsetzung der Inklusion leicht überfordert. Sich jetzt auch noch mit Schülerinnen zu befassen, die evtl. „klüger“ sind als man selbst … schwierig, schwierig.

Also, liebe Eltern: denken Sie bitte darüber nach, bevor Sie da eine Diagnose stellen und dann fordern, Ihr Kind möge bitte dementsprechend behandelt werden. Es könnte Ihrem Kind schaden, es könnte Ihnen schaden – und ganz eventuell auch den Hochbegabten, deren Ruf durch Ihr unüberlegtes Tun verschlechtert wird.

Und weil das ja hier auch ein Serviceblog ist: Wenn Sie meinen, Ihr Kind wäre wirklich deutlich schneller, würde für sein Alter unangessen schnell Zusammenhänge verstehen, suchte sich nur Kontakt zu älteren Kindern, überspränge mal eben eine komplette Entwicklungsphase, stelle Ihnen dauernd Fragen, die auf ein überdurchschnittlich tiefes Verstehenwollen deuten, dann lassen Sie es testen. Nein, Internet-Tests und so ein Gefühl tun dem Kind unrecht. Wenden Sie sich – wenn Münster halbwegs in Reichweite ist – an das ICBF*, da sitzen die Profis. Wenn nicht in Reichweite, dann kennen die bestimmt wen. Auch Mensa sollte wissen, wo man einen Test machen kann, selbst wenn man sonst gar nichts von dem Verein will.

Nachtrag: Im weiteren Verlauf der Unterhaltungen hier und da und dort gab es noch diese Empfehlungen:

*) Wenn Sie da auf einen Professor Christian Fischer stoßen – das bin ich nicht. Das ist ein lustiger Zufall.

29 Kommentare

  1. Ich sag einfach mal danke ;)
    Das hat mir gerade was klar gemacht, was mich jahrelang an dieser dummen Zahl die wirklich gar nichts bewirkt hat zweifeln lassen.

  2. ich habe beruflich mit einer frau zu tun, die enttäuscht ist, dass ihr autistisches pflegekind keine autismus-übliche inselbegabung hat…..

  3. Ich kann aus eigener Erfahrung sage , dass diese dumme Zahl und der damit verbundene Stempel das Doofste war, was mir passieren konnte. Mit einer Teilbegabung im mathematischen naturwissenschaftlichen Bereich habe ich beim Test in Münster eine tolle 130 hingelegt. Leider wanderte diese Zahl in meine Schulakte, da sie die Vorraussetzungen für einen Schulwechsel war. Alle Lehrer erwarteten anschließend von mir Höchstleistungen in allen Bereichen, die ich nie erfüllen konnte. Entsprechend angespannt war meine Schulzeit. Da ich dem Druck nicht standhalten konnte, ließ ich alles schleifen. Wenn ich mich mal für eine Thema interessierte, störten meine Fragen den Lehrplan des Lehrers und wurden abgeklemmt. Ein Wunder, dass ich das Abitur überhaupt geschafft habe. Ein hoher IQ bedeutet rein gar nichts. Vorallem nicht, dass einem die Schule leicht fällt. Wenn ihr euren Kindern einen Gefallen tuen wollt, haltet ihr diese Zahl besser für euch. Sie hilft niemandem weiter.
    Danke für den Text! Du triffst es auf den Punkt!

    1. @L. Erstmal danke fürs Erzählen. Ich würde ergänzen…:
      Ein hoher IQ bedeutet vielleicht aber auch ganz viel – je nachdem. Aber man weiß es eben nicht. Und er bedeutet vor allem eben nicht automatisch dies oder das – und selten das, was man gemeinhin damit verknüpft. Er kann – wie jede andere körperliche Disposition – alles möglich nach sich ziehen.

      Den Rat, diese Zahl für sich zu behalten, den habe ich schon oft gehört. „Diese Zahl“ ist so mit (meist falschen) Erwartungen belegt, da wählt man vielleicht wirklich besser sehr gut aus, wem man sie sagt.

  4. Ich trau mich nicht.
    Der Frau vom Verband, die mich mal prüfend und Verdacht hegend länger anschaute, habe ich mich entwunden. Seitdem nur Zweifel und die Angst vor einer ‚falschen‘ Zahl. Und nun eine der Mütter, die das heikle Wort umschifft. Theoretisch und praktisch.

  5. Wenn sie nicht dem entspricht, was ich mein halbes oder zwei Drittel meines Lebens denke. Was andere offensichtlich, aber stumm von mir dachten oder offen aussprachen (wie ein Vietnamese, der zu solchen Fragen ein kulturell bedingt anderes Verhältnis hatte.) Wenn ich nochmal anders wäre als gedacht.
    Ich habe mir mal (nebenbei) Testaufgaben angeschaut und hatte dabei ein schlechtes Gefühl. Nur eine Art Aufgaben, und die entsprach mir nicht. Ich war danach nicht versöhnter mit mir.
    Und andererseits: Ich bin schon mit 17 diesem prüfenden Blick und den Fragen der bis dahin und für lange Zeit einzigen Fachfrau ausgewichen, weil ich dachte, ist ja eh schon zu spät. Dieser Eindruck hat sich eher verstärkt.

    1. @F: Das ist ja viel auf einmal. Ich glaube aber auch, es ist nie zu spät und ich kenne auch diverse Menschen, denen eine Gewissheit – welche auch immer – schon was gebracht hat. Und DIE Zahl, DIE magische Schwelle von 130 – nun denn. Guckst Du Dir die Kurve an, dann ist ja auch logisch, dass eine 125 für den Menschen auch nicht weniger bedeutet als eine 130.

  6. Und noch was: ja, ich hielt mich vorsichtig für hochbegabt (in der späten Schulzeit, nachdem ich den Begriff gehört, gelesen, viel dazu erfahren hatte), und ich fand immer, dass 2% eher viel sind. 2 pro Jahrgang unser etwa so großen Schule, wenigstens, oder jedenfalls wenn die Verteilung auf die Schulen einfach nur in Hunderterblöcken erfolgt wäre und einen statistischen Wert abbilden würde. Gleich zwei! Zwei fand ich viel.

  7. Ich habe den Test mit 38 gemacht und es hat mein Leben in allen Bereichen zum Positiven geändert. So viel zum Thema „zu spät“.

  8. Mein Mann wurde als Kind getestet und verrät seinen IQ nicht. Er sagt nur, dass er das Gefühl hatte, von seiner Mutter ausgenutzt worden zu sein. Er sollte ihren Traum verwirklichen. Er hat zwei Schulklassen übersprungen und war immer nur mit älteren Mitschülern zusammen, die ganz andere Themen als er hatten. Das hat ihm nach eigener Aussage in seiner Sozialisation nicht gut getan. Er sagt immer, dass er das unserer Tochter nicht wünscht. Ich sage, dann müssen wir anders mit ihr umgehen, als er es in seiner Kindheit erlebt hat. Ich weiß immer noch nicht, was Eltern und ihren Kindern diese Zahl bringt. Und was sollten Lehrer mit hochbegabten Kindern denn idealerweise tun?

    1. @Rita: Uh, das Thema „was sollten Lehrer …?“ ist kein ganz einfaches. Weil eben so viel rein spielt – eben auch zB die Persönlichkeit, die soziale Entwicklung, das was Dein Mann erlebt hat.
      Lehrer sollten also erstmal Feingefühl haben.
      Guter, moderner Unterricht kann eh schon auf unterschiedliche Leistungsstände der Kinder eingehen – da lernen die Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend in einer Stunde zusammen unterschiedliches.
      Oder es gibt auch Schulen, in denen Jahrgangsübergreifend gearbeitet wird.

      Das sind jetzt spontan die Dinge, die ich so mitbekomme – wenn Du da aus Gründen mehr Interesse hast, meld Dich gern.

  9. Ich habe den Test mit Anfang 30 gemacht, weil es schon etwas länger einen Anfangsverdacht gab und man es ja heimlich machen kann, ohne Angst haben zu müssen, aufzufliegen.

    Es hat mir Einiges erklärt und mich streckenweise wütend gemacht, denn meine Schulzeit war keine leichte und wer weiß, ob es nicht irgendwie hätte besser sein können, artgerechter.

    Einfacher ist aber danach nichts geworden, weil ich mich weiterhin ständig im Verdacht habe, mich da irgendwie reingemogelt zu haben. Und weil ich auf der anderen Seite finde, dass ich schlauer handeln müsste als Andere. Und immer von mir selbst enttäuscht bin, wenn ich es nicht tue. Sharon Stone hat wenigstens noch die Schauspielerei.

  10. Erstmal wirklich Danke Euch allen, hier kommen ja teils sehr persönliche Geschichten hoch.
    Wenn ich da mal versuche, einen Überblick zu bekommen, dann lässt sich eins fest halten: So eine Zahl setzt irgendwie einen deutlichen Druck in Gang. Entweder von außen oder bei einem selbst – wobei ich denke: Wir sind ja alle Kinder unserer Sozialisation und den selbstgemachten Druck kann man gut auch auf Vorstellungen anderer zurückführen.
    Aber, um meinen Vergleich noch mal zu bemühen: Würde man von einem Kind mit langen Beinen fordern, es solle jetzt gefällig aber auch ein guter Läufer werden? Von einem Kind mit breiten Schultern automatisch, es solle jetzt aber bitte gut schwimmen oder Gewichte heben?
    Ich denke nein und ich finde das schon krass, was ein einzelnes Körpermerkmal da auslöst.

  11. Ja, schon.
    Kurze Antwort, was macht es mit mir (mir scheint, alle, die sich spät haben testen lassen und hier antworten, wurden als hochbegabt bestätigt), wenn ich es dann in der Mitte des Lebens nicht bin? Große Kränkung?
    Und ja, doch, ich erwarte von mir, etwas damit zu machen. Wie auch meine Sportlehrer von meinen schnellen Beinen und meine Musiklehrer von meinen flinken Fingern was erwartet haben und alle enttäuscht wurden. („Du hast kein Sport studiert?!“ „Warum warst Du eigentlich nie als Jungstudentin an der Musikhochschule?“) Schlimmer der Naturwissenschaftslehrer, der mir alles, was er in der Hand hatte, wörtlich vor die Füße warf und fluchte, was ich mache, sei „Perlen vor die Säue“.
    Und ich bin nicht religiös, aber das Gleichnis von den verliehenen Talenten trifft es, trifft mich immer wieder:
    https://www.bibleserver.com/text/EU/Matth%C3%A4us25
    Man muss doch was draus machen! Aus allem. Gerade aus dem Geist.
    Die Selbstdefinition übers Scheitern. Auch an den eigenen Ansprüchen. Gerade an denen: Und darum die Angst vor der Kränkung auch noch durch eine Zahl, deren Phantom mich vielleicht dennoch genauso blockiert wie eine konkrete Ziffer es täte. Und das Gefühl, den Punkt, wo man (der Geist) gut war, eh verpasst zu haben.)

  12. Ich war auch erst enttäuscht von mir. Eigentlich war ich sogar schon immer enttäuscht von mir und dann bekam ich dieses Ergebnis und war noch enttäuschter. Es hat mich ein paar Jahre und viele Fahrten in das vom jawl erwähnte ICBF gekostet um mit mir ins Reine zu kommen und zu verstehen, was ich selbst bin und was die Erwartungen anderer sind. Und vor allem: Worin ich gut bin, vielleicht auch besser oder sogar viel besser als andere. Das sind vielleicht nicht die Sachen, die meine Eltern oder meine Lehrer sich erträumt hätten, aber es sind welche, wo ich meine grauen Zellen schon für brauche.
    Den Druck, den er erwähnt, den hatte ich auch erst. Der ging erst später, deswegen sage ich heute: Das hat alles besser gemacht.
    Frisch nach dem Testergebnis habe ich nur gesagt: Jetzt verstehe ich und habe wegen der verlorenen Jahre getrauert.

  13. @jawl: „Würde man von einem Kind mit langen Beinen fordern, es solle jetzt gefällig aber auch ein guter Läufer werden? Von einem Kind mit breiten Schultern automatisch, es solle jetzt aber bitte gut schwimmen oder Gewichte heben?“

    Ja, klar. Das ist doch weltweit der Fall. Schon Kinder/Jugendliche mit „Gardemaß“ werden zum Basketball gedrängt, oder zumindest zum Langstreckenlauf, alternativ als Model angepriesen, wie ich in der Familie sehe.

    In der UdSSR und im Ostblock hat man mit der Abschätzung à la Viehauktion Jahrzehnte Medallienträger gezüchtet (und natürlich bei Bedarf nachgeholfen), in den USA läuft es heute noch so, nur nicht mit dem politischen Druck „zu Ruhm und Ehre des Vaterlands“ sondern mit handfesten finanziellen Vorteilen: Wer groß genug ist um Basketballer zu werden, breit und kräftig genug für das Footballteam, langbeinig genug fürs Trackteam etc. kriegt die Schulgebühren erlassen und hat auch als Ghettokind eine Chance aufs College. Der IQ ist da nicht so wichtig, denn deren Bildungssystem ist inzwischen so dermaßen runtergedummt, dass da noch der Allerletzte die üblichen multiple choice Tests besteht. Kann man schön erkennen an dem “no pass no play”-Gesetz aus den 80ern: Das wurde erlassen, weil den Topsportlern die akademischen Prüfungen im Schuljahr geschenkt wurden, so lange nur die Leitungen auf dem Feld stimmten. Wer keinen Mindestnotenschnitt schaffte, durfte dann halt nicht fürs Footballteam auflaufen. Ja gut, dann wird halt das Niveau gesenkt. ¯_(ツ)_/¯

    Es mag bei den weltfremden Schneeflocken im Prenzlberg oder Eppendorf so sein, dass die lieben Prinzen und Prinzessinnen sich körperlich entfalten können wie sie mögen (aber natürlich sind die Kleinen alle hochbegabt oder wenigstens hochsensibel), aber das gilt nicht für Mümmelmannsberg oder Marzahn, möchte ich wetten. Und natürlich ist das alles total kaputt, aber das ist die Welt, in der wir leben.

  14. @Kiki …und natürlich sind die lieben Kleinen alle hochbegabt. Bingo! Das ist der Grund, warum ich hier anonym über meine Nöte rede (und nicht sage, was für ein geiler Schlauhecht ich bin, vielleicht), aber meine privilegierten Akademikerkinder sehr weit außen vor lasse, obwohl natürlich sie einer der Gründe sind, warum das Thema so akut ist. Die eigene Geschichte verstehen, um es mit den Kindern richtig(er) zu machen. As if.
    Ich verstehe, wo diese Schublade herkommt. Sie ist aber für Eltern und Kinder nicht hilfreich. Auch für so Klischee-Familien mit behüteten Schneeflockenkindern nicht.

  15. Genau, die Schublade ist nicht hilfreich, für niemanden. Auch wenn ich Deinen Blick für ein bisschen arg pessimistisch halte, Kiki, ich weiß natürlich was Du meinst und dass das nicht falsch ist.
    Was ich mir wünschen würde, von uns selbst und von allen: Die Wertung raus zu nehmen. Sowohl die, dass lange Beine oder schnelle Synapsen an sich schon etwas wert sind und auch die, dass die, die nicht „was“ draus macht nichts wert ist.
    Und, liebe F.: Pass auf deine Kinder auf, dass sie nicht in dieser Werte-Mühle landen!

  16. Und, Kiki …:
    : aber natürlich sind die Kleinen alle hochbegabt oder wenigstens hochsensibel
    Was meinst Du denn damit?

  17. Ich kann halt auch nur das widergeben, was ich so im Umfeld mitbekomme, sei es offline privat in Familie und engstem Freundeskreis oder eben in meiner Twitterfilterblase, in der sich mindestens die Hälfte zu den Eltern der 2% zählen … honi soit qui mal y pense.

    Es ist natürlich nicht hilfreich, aber es ist ja wie’s ist, oder? Die Frage lautet: Wie ändern wir das? Und da sehe ich in der sich in den letzten 30 Jahren sehr verschärften Atmosphäre des ‘survival of the fittest’ leider kein Licht am Horizont, im Gegenteil.

  18. @Kiki
    Was helfen würde? Meinem Empfinden nach auch, das nicht augenrollend (und das Augenrollen lese ich in der Zuschreibung von Prinzessinnen, Prinzen, Schneeflocken zu privilegierten Viertel, sorry, auch wenn ich manchmal vielleicht selbst mit Augen und Ohren rolle, sehe den Punkt ja!) zu reproduzieren. Das macht das nämlich zu einem Tabuthema, weil man nicht sofort im Verdacht stehen will, eine Tigermom von Prinzesschen zu sein. Darum kann ich Läuse oder Darmentzündungen offen ansprechen, klammere Begabungen etc. aber generell im Gespräch eher aus. Auch mit Kindearzt und Lehrern und druckse bei Gesprächen zur Wahl der weiterführenden Schule eher rum. Weil die vielleicht für das Kind attraktive Schule genau zu diesen Schubladen passt. „Ah, XY. Für Eltern, die ihre Kinder für was Besseres halten.“
    Ist gesellschaftlich ähnlich wie bei Intoleranzen: Wenn alle „ein bisschen glutenfrei“ leben wollen, ist Leuten mit Zöliakie nicht geholfen, sondern sie sind dann schnell ‚auch so Spinner‘.

  19. Das macht das nämlich zu einem Tabuthema, weil man nicht sofort im Verdacht stehen will, eine Tigermom von Prinzesschen zu sein. Darum kann ich Läuse oder Darmentzündungen offen ansprechen, klammere Begabungen etc. aber generell im Gespräch eher aus. (……)
    Ist gesellschaftlich ähnlich wie bei Intoleranzen: Wenn alle „ein bisschen glutenfrei“ leben wollen, ist Leuten mit Zöliakie nicht geholfen, sondern sie sind dann schnell ‚auch so Spinner‘.

    Diese Zusammenfassung/Interpretation finde ich so toll, dass ich seit einer Woche immer wieder hierher zurückkomme, um es noch mal nachzulesen, weil ich so begeistert bin, dass ich endlich für mein eigenes Verhalten eine Erklärung gefunden habe, denn ja, ich habe mich auch immer geschämt zuzugeben, dass meine Kinder zu diesen 2% gehören (allein das Wort „hochbegabt“ hinzuschreiben ist mir schon peinlich, wie ich grade feststelle), weil ich um nichts in der Welt so sein wollte, wie meine Eltern und auch auf gar keinen Fall in eine Schublade zu diesen Tigermoms gesteckt werden wollte. Und überhaupt hört sich das immer ganz schrecklich nach Angeberei an. Dabei ist es eigentlich eher so etwas wie Zöliakie, man kann sich damit arrangieren und man kann damit sogar auch gut leben, aber echte Vorteile bringt es einem nicht.

    Meine eigene Geschichte: Meine Tante war Sonderschulpädagogin und dafür zuständig, Kinder auf Lernbehinderung zu testen. Selber kinderlos war ich Zielscheibe all ihrer privaten „Kümmeraktivitäten“ und so absolvierte ich mehrfach diverse IQ-Tests, so dass meine Eltern früh informiert war, welches „Wunderkind“ sie da haben und entsprechend versuchten, mich dadurch schulisch zu „fördern“, in dem sie mit meinen Lehrern redeten und ich habe sie dafür gehasst. Aus meiner Sicht war das so ziemlich die peinlichste, unangenehmste und überhaupt schrecklichste Sache, die sie tun konnten, weshalb ich meinerseits wiederum versuchte, in der Schule hauptsächlich durch Abwesenheit zu glänzen. Ich selber hatte nie das Gefühl, das ich besonders klug bin, schon vor allem deshalb, weil ich nichts besonders gut kann und es überall Leute gibt, die einzelne Bereiche teilweise deutlich besser beherrschen als ich. Dass es etwas Besonderes sein soll, wenn man dafür aber so gut wie alles wenigstens „irgendwie“ hinbekommt und vor allem auch sehr schnell versteht, wenn es einem erklärt wird, und noch viel schlimmer, dass man sich den absurdesten Blödsinn einfach nur deshalb merkt, weil es einem doch gesagt wurde, nun, hierin eine Besonderheit zu sehen, wäre mir schon deshalb nicht eingefallen, weil das für mich eben einfach immer nur ganz normal war. Ist doch logisch, oder? (Mit dem Satz habe ich wahrscheinlich schon sehr viele Leute wahnsinnig gemacht.)

    Mir fällt es bis heute schwer zu verstehen, dass es Menschen gibt, die langsam sind. Langsam darin, Zusammenhänge zu erkennen, Sachverhalte zu erfassen und sich Informationen nicht nur zu merken, sondern auch gezielt dann abzurufen, wenn sie benötigt werden. „Langsam“ ist dabei natürlich ein extrem subjektiver Begriff. Blöderweise macht man sich nicht sehr beliebt, wenn man andere Leute ständig ungeduldig drängelt, und „ist doch logisch“ ist auch kein Satz, mit dem man sich Freunde macht.
    Als ich den Vater meiner Kinder traf war ich begeistert. Endlich jemand, der aus dem Leerlauf auf Augenhöhe mit mir umgehen konnte, auf seiner Seite war die Begeisterung ähnlich groß, denn es mag ja schick sein, zu den 2% der Auserwählten zu gehören, dummerweise ist es dort aber auch oft sehr einsam.
    Wir bekamen drei Kinder und die Mendel’schen Gesetze funktionierten, alle drei gehören in die Kategorie „dumm sind sie nicht, nur seltsam“.
    Meine eigenen Schulerfahrungen prägten mich natürlich auch als Mutter, ich fand (finde) Schule gewaltig überbewertet, und habe das wohl auch meinen Kindern vermittelt. Es gab bei uns nie Geld für gute Noten, sondern schulfrei. Da ich selber große Teile meiner Schulzeit nicht in der Schule verbracht habe (sondern lesend auf dem Heuboden), wusste ich, dass körperliche Anwesenheit in der Schule kein Garant für gute Noten ist. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass Kinder zum Außenseiter werden, wenn man zu sehr betont, dass sie etwas Besonderes sind. Ich habe mich deshalb sozusagen gar nicht um ihre schulischen Dinge gekümmert, meine Haupttätigkeit bestand im Entschuldigungszettel schreiben. Der Große wuschelte sich irgendwie durch seine Schulzeit, ähnlich wie ich glänzte er vor allem durch Abwesenheit, im Unterschied zu mir brauchte er allerdings einen akzeptablen NC, da er Medizin studieren wollte, weshalb er die letzten beiden Schuljahre tatsächlich fast regelmäßig anwesend war. Getestet wurde er nie, es gab keinen Grund, es ändert ja auch nichts.
    Offiziell getestet wurde als erstes die Mittlere, weil sie genau der Jahrgang war, der in dem Umstellungszeitraum von G9 auf G8 aufs Gymnasium kam und die Schule eine sogenannte „D-Zug-Klasse“ einrichtete, für die zusammen mit der Beurteilung durch die Lehrer auch ein entsprechender Test Voraussetzung war. Damit nahm man den Eltern den Wind aus den Segeln, die behaupteten, sie könnten ihre Kinder besser einschätzen als die Lehrer und mit Klage drohten, wenn ihre hochbegabten Schätzchen trotz fehlender Lehrerbefürwortung nicht in diese D-Zug-Klasse aufgenommen werden würden. Was mich damals sehr faszinierte, waren die Eltern, die so krampfhaft versuchten, ihre Kinder durch Umetikettierung in eine Kategorie zu pressen, die sie selber als erstrebenswert erachteten, die ich selber aber nie als positiv wahrgenommen habe, weil ich gefühlt in meinem Leben dadurch meist mehr Probleme als Vorteile hatte. Ich bin nicht besser als andere, ich bin vor allem anders. Und verflixt, das wünscht man sich doch nicht.
    Was ich gleichzeitig auch bemerkt habe, war, wie peinlich ich es fand, zugeben zu müssen, dass mein Kind in diese D-Zug-Klasse ging, und wenn ich darauf angesprochen wurde, betonte ich stets, dass das die Schule so gewollt hätte und dass es nichts mit einem wie auch immer gearteten zusätzlichen Lernaufwand zu tun hätte.
    Das Kind allerdings hatte das erste Mal in seinem Leben Spaß daran, zur Schule zu gehen.
    Leider zogen wir dann in eine andere Stadt, wo es keine D-Zug-Klasse gab, so dass sie einfach nur in die nächst höhere Klassenstufe eingruppiert wurde, recht schnell aber ihren grade erst frisch entdeckten Spaß an Schule wieder verlor. Die weitere Schulzeit hat sie vor allem mit Zähne zusammenbeißen und vielen Entschuldigungszetteln absolviert, war grade 17 geworden als sie Abitur machte und nahm sich dann erst mal zwei Jahre Auszeit, um durch die Welt zu gondeln. Heute hat sie sich ganz gut gefangen, sie studiert jetzt Mathematik und fühlt sich wie damals in der D-Zug-Klasse, aber ich finde, sie ist ein klassisches Beispiel dafür, dass Hochbegabung alles andere als erstrebenswert ist.
    Der Kleinste schließlich wurde mit 10 getestet, weil er schwere Depressionen hatte und die Schule so sehr verweigerte, dass ich das auch mit meinen Dauerentschuldigungszetteln nicht mehr decken konnte. Nach vier Jahren Therapie und zwei Jahren „Schulauszeit“ hatte er sich irgendwann so weit gefangen, dass er wieder normal mitmachen konnte. Heute studiert er mit einem Begabten-Stipendium Pharmazie und versucht verzweifelt geheim zu halten, welche Geschichte er hinter sich hat, denn wenn man sich gerne sicher und gemocht in eine Peergroup integrieren möchte, ist es ausgesprochen klug, nicht zu klug zu sein.

  20. : denn wenn man sich gerne sicher und gemocht in eine Peergroup integrieren
    : möchte, ist es ausgesprochen klug, nicht zu klug zu sein.

    Was für ein trauriger Satz. Ich kann das bestätigen, ich verlor eine meiner ältesten und besten Freundinnen als ich darauf vertraute, dass sie auch bei diesem Thema eine gute Freundin sein würde. Sie fragte „Und jetzt bist Du was bessers?“ und wir sahen uns nie wieder.
    Ich erzähle es nicht mehr.

  21. @Anje
    Vielen Dank für Deine Worte zu mir und für Deine lange Erzählung. Puh.
    Bitte komm auch die nächsten Tage nochmal wieder, in mir formulieren sich ständig Antworten.
    (Vielleicht könnte ein Teil des Gesprächs auch privat weitergeführt werden.)

  22. Ja, das war traurig. Aber, ich möchte trotzdem immer wieder sagen: Ohne die „Diagnose“ ginge es mir heute nicht so gut.
    Es klingt ja im Artikel eigentlich schon durch: HB an sich ist nichts. Nicht gut oder schlecht, sie ist erstmal einfach da. Und dann kann man damit gutes oder schlechtes erleben und gutes oder schlechtes daraus machen.
    Aber vieles was geschieht, versteht man mit einer solchen Einordnung besser.

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