8.2.2013: Eine echte Kracherklasse

Vor ziemlich exakt zwanzig Jahren dachte ich, ich wolle wohl gerne Lehrer werden. Genauer: Sonderpädagoge. Und um ein solcher zu werden muss man studieren und vor den Studium sechs Wochen Praktikum in zwei verschiedenen Sonderschulformen – wie es damals noch hieß – hinter sich bringen.

Das erste Praktikum verbrachte ich in einer Sprachbehindertenschule. Die wurden damals gerne als Ausweg benutzt, um Kindern das zu ersparen, was man so gemeinhin unter »Sonderschule« und dem damit verbundenen sozialen Abstieg verstand – und so hatten wir schon einige echte Kracher kennen gelernt. Außerdem hatte ich ja auch in meinem Jugendtreff schon eine Menge erlebt und so empfand ich dann das zweite Praktikum in einer Sehbehindertenschule als reine Erholung – dort stießen wir nämlich überwiegend einfach nur auf nette, ruhige, lernbegierige Kinder.

Wie es mit Praktikanten die noch gar nichts können so üblich ist, wurden wir halt einfach durch die ganze Schule gereicht und guckten mal hier, mal da einfach zu. Meist konnten wir sogar einfach rumlaufen, so richtig zu gebrauchen waren wir ja eh nicht.
Nur am Karnevalsfreitag, da hatte eine Kollegin deutlich um unsere Hilfe gebeten. Sie musste nämlich – wie alle – mit ihrer Klasse eine kleine Feier feiern und bat uns drei um Hilfe. Denn: Ihre Klasse, das wäre eine echte Kracherklasse. Wir kamen also Freitags mit deutlichem Respekt in die Schule.

Wir waren vor ihr da und im Lehrerzimmer schickte man uns schon mal hoch; die Kollegin käme vermutlich eh direkt zum Klassenraum. Einen Moment hingen wir noch auf dem Flur rum, aber dann, hilft ja alles nichts, trauten wir uns doch.
Elf Mädchen saßen an den zu einem U aufgestellten Schultischen. Sie alle waren toll verkleidet und geschminkt, acht malten gerade etwas, drei hatten ein Buch vor sich. Es war totenstill; alle starrten uns erschrocken an.
»Ihr seid die 5b?« fragten wir verwirrt. Eine ganz mutige kleine Katze nickte, die anderen starrten weiterhin nur ängstlich. Wir stellten uns vor und erklärten, wir würden heute bei ihnen zu Gast sein. Unter einer Kracherklasse hatten wir uns etwas anderes vorgestellt.
Ein Hauch von Entspannung, wir erklärten weiter, sie könnten uns einfach ignorieren und weiter machen, was sie gerade eh getan hätten. Erleichtertes weitermalen.

Dann kam die Lehrerin. An ihr hing, tobend und schreiend und um sich tretend, ein niedlicher kleiner Pirat. Das war Schüler Nummer zwölf. Der wurde in den Gruppenraum hinter der Klasse gesetzt und bekam eine Kiste Steine. Er zählte nämlich gerne.

Dann war es still. Totenstill.
Und dann klärte uns die Kollegin auf. »Kracherklasse« wäre jetzt nicht so zu verstehen wie bei anderen, ihr Problem wäre eher, dass die elf Mädchen alle etwas, nun ja, extrem schüchtern wären. Und der eine, sehr wilde Junge mache das natürlich nicht besser. Und unser Job heute Morgen wäre also eher der eines Entertainers, oder auch der eines Animateurs. Man müsse doch jetzt bitte Karneval feiern.

Hurra.

Wir begannen also unseren Job. Einen echten Knochenjob, um es vorweg zu nehmen. Zuerst wurde die Klasse geschmückt. »Hey, heute ist ja Karneval, wollen wir da jetzt zusammen unsere Klasse für die tolle Party schmücken?« rief die Kollegin.
Zehn Mädchen starren zu Boden, die mutige Katze schüttelt den Kopf. Doch doch, Helau!, Alaaf!, hey, wir machen jetzt! schaut nur, was hier tolles in der Kiste ist! Ihr mögt doch Luftschlangen und Girlanden!
Die Katze greift nach der hingehaltenen Luftschlange und guckt sie ratlos an. Wir machen es vor, sie pustet mutig auch. Einhundertzwanzig Zentimeter buntes Papier fallen drei Zentimeter vor ihren Füßen auf den Boden.
»Warum?« fragt sie. »Weil wir jetzt feiern!« antworten wir.
Es wird der meist geführte Dialog der nächsten neunzig Minuten. Warum ziehst Du die Vorhänge zu? Warum malst Du bunte Sachen an die Tafel? Warum wirfst Du das Papier aus dem Locher auf den Boden? Warum dürfen wir in der Stunde essen? Warum muss ich rumlaufen? Warum haben wir kein Deutsch?
Weil. wir. jetzt. feiern.
Und irgendwann, ganz besonders traurig: »Frau Müller, warum muss ich aussehen wie eine Katze? Ich mag das nicht. Muss ich Montag auch wieder eine Katze sein?«

Wir vier Erwachsenen wirbeln durch den Raum, werfen Girlanden und Konfetti und versuchen unser Bestes, aus einen schnöden Klassenraum eine Disko herzustellen. Dann tanzen wir zu doofer Karnevalsmusik, freuen uns übertrieben an Limo und Süßigkeiten und animieren uns einen Wolf, bis schließlich doch alle irgendwie ein bisschen mitmachen.

Hin und wieder geht jemand in den Gruppenraum und kippt die Kiste mit den Steinen wieder aus, der Pirat zählt wirklich gerne.

Als die ersten beiden Stunden und die große Pause rum sind, sind die Vorhänge wieder auf. Der Ghettoblaster schweigt und die mutige kleine Katze fragt: »Aber jetzt machen wir endlich Mathe, oder?«

Es ist einer der schlimmsten Vormittage meines Lebens. Und das nicht, weil ich Karneval nicht so mag.

Anmerkung: Ja, aus pädagogischer Sicht habe ich damals schon arg angezweifelt, was wir da getan haben. Ich habe auch versucht, die Kollegin zu fragen, aber Praktikanten wurden halt einfach nicht gefragt. Und das war halt so.

Dieser Artikel wurde zuerst am 8.2.2013 veröffentlicht im jawl, meinem alten Blog. Das jawl ist geschlossen aber diesen Artikel wollte ich gern behalten und habe ihn deswegen in ein Archiv alter Artikel aufgenommen.

Danke fürs Teilhaben und Dabei-sein. Wenn Sie wollen:
Hier können Sie mir ’ne Mark in die virtuelle Kaffeekasse werfen,
Oder – wenn Ihnen Geld zu unpersönlich ist – hier ist meine Wishlist. Sie finden dort formschöne und Freude-spendende Geschenke für wenige oder auch sehr viele Euro.

Die Website setzt 1 notwendiges Cookie. Ich nutze Matomo, um zu sehen, welche Artikel Sie interessieren. Matomo ist lokal installiert es werden keine Cookies gesetzt, so dass Sie dort vollkommen anonym bleiben. Externe Dienste werden erst auf Ihre Anforderung genutzt.