17.11.2012: Die guten alten Zeiten

Letztens fand ich mich in einer »Die Polizei kommt ja eh nicht, wenn man sie wirklich braucht«-Unterhaltung wieder. Ich kann das nicht beurteilen, ob das immer und überall so ist, versprach aber, die Anekdote zu verbloggen, die mir dazu einfiel.

Es war während meiner Zivildienstzeit in einem Jugendtreff in einem Aachener Vorort. Ich hatte dreimal die Woche Bürodienst im Treff und unser Büro war offener Anlaufpunkt für die Jugendlichen, die einfach gerne dort abhingen, nach der Arbeit noch ein bisschen quatschen wollten oder sich ihre Pizza auch mal an meinen Schreibtisch liefern ließen, weil zu Hause gerade der Haussegen schief hing.
Die ersten Wochen waren natürlich erst einmal von gegenseitigem Abchecken geprägt und so nahm ich den oft gehörten Spruch darüber, dass ich die wilden Zeiten leider nicht mitelebt hatte erst einmal als Übertreibung: »Zivi, da standen jeden Freitag die Bullen vor der Tür! Und die Sofas aus dem Treff waren durch die geschlossenen Fenster nach draußen geflogen! Aber das war noch damals, drüben im Gemeindehaus, nicht hier …«

Jaja.

Dann erzählte mir der Herr Pfarrer mal, ich hätte ja die wilden Zeiten zum Glück nicht mehr mitbekommen: Da hätten ja jeden Freitag die Bullen vor der Tür gestanden, nachdem die Sofas aus den geschlossenen Fenstern geflogen wären. Deswegen hätte er ja auch den Jugendtreff gebaut, der Pfarrgemeinderat hätte ihm diese Diskoveranstaltungen verbieten wollen, das wäre ja alles noch drüben im Gemeindehaus gewesen.

Oh ha?

Ein gewisser Hang zu rustikalen Problemlösungen war also wohl wirklich vorhanden; aber jetzt war es schon seit ein paar Jahren ruhig.

Dann forderten die Teenies einen eigenen Diskoabend ein. Kriegten sie. Zu dem kamen dann auch Besucher »aus der Stadt« – das fanden auch erstmal alle ok – aber dann hatten sich einen Abend auf dem Parkplatz zwei ein bisschen geschubst. Nichts böses soweit, und es gingen auch sofort ein großer Bruder von hier und ein großer Bruder von da zum Schlichten dazwischen. Die beiden wiederum gerieten dann aber beim Schlichten etwas ernsthafter aneinander und es fiel zweimal der böse Satz »ich hol meine Kumpel und wir treffen uns hier wieder«. Die Verabredung stand also.

Eine Woche später hatte ich Dienst. Im Treff war es überraschend voll, die Luft flirrte. Viel zu viele ältere, die gar nicht in die Teeniedisko passten, lungerten im und am Treff rum. Ein paar von ihnen patroullierten in ihren Schiroccos auf der Ausfallstraße und tatsächlich kam irgendwann die Meldung, es kämen zwei sehr volle Linienbusse aus der Stadt.
Als ich in mein Büro kam, saß der eine große Bruder, der mit dem alles sieben Tage vorher angefangen hatte, unter meinem Schreibtisch und bat mich, sofort die Polizei anzurufen. Ich musste über ihn, den Meister der großen Klappe, etwas grinsen – aber auf die Idee, ein paar Ordnungshüter zu holen war ich selber schon gekommen. Vor allem weil man mir draußen gerade stolz den mit Baseballschlägern und Ketten gefüllten Kofferraum gezeigt hatte.

1-1-0 – Polizeidienststelle Aachen? – Fischer, Jugendtreff Aachen H., wir haben hier gleich eine böse Schlägerei und ich würde Sie bitten, schnell zu kommen. – Ja schlägt sich wer oder nicht? – Nein, noch nicht, aber ich hab hier knapp hundert teilweise bewaffnete Jugendliche vor der Tür und aus der Stadt kommen gerade die anderen. – Na, dann sag ich mal: Melden Sie sich doch, wenn die sich wirklich schlagen, hm?! – Äh? (Ich zog den Trumpf, den der Pfarrer mir beigebracht hatte) Es ist Aachen-H., der Jugendtreff R., von dem aus ich anrufe! – Ja und? (Klick)
Tja, der war wohl auch aus der Generation, die die guten alten Zeiten nicht mehr miterlebt hatten.

Ich verließ den Treff, sah wie sich die ersten gerade gegenseitig in die Körpermitte traten, drehte um und wählte erneut: JETZT schlagen sie sich. Recht ernsthaft, es sind ca. 200 Mann. – Na, wir schicken mal einen Wagen.

Der Wagen kam, sah und fluchte, ich hätte doch gleich sagen wollen, dass es der Jugendtreff in Aachen-H. war und bestellte schnellstmöglich Verstärkung. Es wurden zahlreiche Baseballschläger (»Alles Sportgeräte, Herr Wachtmeister!«) eingesammelt, ein paar Großmäuler verbrachten die Nacht in einer Zelle; verletzt war zum Glück noch niemand.
Die nächsten vier Tage war unsere kleine Straße komplett gesperrt, am Anfang und Ende standen jeweils zwei Mannschaftswagen und ohne guten Grund kam nan nicht zur Kiche oder zum Treff. Ich habe selten so oft meinen Ziviausweis vorgezeigt und die Freundin aus Menden, die mich ausgerechnet in der Woche besuchte, wurde festgehalten und kam nicht rein.

Dann lauerten die aus der Stadt einem von uns in der Stadt auf und prügelten und traten ihn ziemlich gründlich ins Krankenhaus. Baseballschläger und Ketten hin, gute alte Zeiten her, da erschraken sich alle, das hatte irgendwie keiner gewollt.
Nun waren alle bereit, sich endlich unter der Leitung zweier Pädagoginnen an einen Tisch zu setzen und mal zu reden; vorher hatte man das als unmännlichen Scheiß abgelehnt.

Die guten alten Zeiten hatten ihre Unschuld verloren.
Und mein Nachfolger bekam die Geschichten nicht mehr zu hören.

Dieser Artikel wurde zuerst am 17.11.2012 veröffentlicht im jawl, meinem alten Blog. Das jawl ist geschlossen aber diesen Artikel wollte ich gern behalten und habe ihn deswegen in ein Archiv alter Artikel aufgenommen.

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