Anstand, Stil & Rücksicht

Dieser Artikel entstand als zu lang geratene Antwort auf einen Kommentar zum letzten Artikelchen und bezieht sich vor allem auf die Sätze „Allerdings würde ich […] sehr ungern auf Eigenschaften wie Anstand, Stil, Rücksicht, […] Umgangsformen haben noch nie geschadet.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu einem beherzten: „Und wie sie das haben!
Und ich will das gern erläutern.

tl;dr: Wenn ein Weihnachtsbaum brennt, muss auch ein höfliches Kind die Erwachsenen unterbrechen. Wenn die Welt brennt imho auch.

Beginnen wir mit zwei Geschichten: Die eine passierte mir, ich war vielleicht zehn Jahre alt, wir hatten Besuch und ich saß am Fenster und langweilte mich an den Erwachsenengesprächen als ich sah, dass das Auto des Besuchs langsam aus unserer Einfahrt rollte. Nun hatte ich die Regeln von Anstand und Stil – kurz: „Benehmen“ – gelernt und hatte verinnerlicht, dass man Erwachsene nicht unterbricht. Gleichzeitig fühlte ich, dass ich jetzt etwas sagen müsste und der innere Konflikt zerriss mich.
Die andere geschah einer ehemaligen Schwägerin in spe, als sie das erste Mal mit sechzehn bei ihren neuen Schwiegereltern Weihnachten feierte. Sie beobachtete, wie der Baum Feuer fing und durfte ja die Gespräche nicht unterbrechen.
(Sowohl sie als auch ich bekamen den Mund noch rechtzeitig auf. Aber wir haben uns mal erzählt, wie es uns zerrissen hatte, jetzt unhöflich sein zu müssen)

Ja nun, das war aber auch dumm von Euch beiden“, höre ich Sie sagen, „man muss doch wissen, wann man auch mal »unhöflich« sein darf, weil es etwas Wichtigeres gibt.“
Richtig.

Wir sind aber beide – um auf den Eingangssatz zurückzukommen – nur knapp daran vorbei geschliddert, dass (falsch verstandenes?) Benehmen sehr geschadet hätten.
These1: Vielleicht weil wir die Regeln, die uns unsere Eltern beigebracht hatten, bis dahin nie hatten brechen müssen, brechen dürfen, brechen können, ohne dass es ein Fehler gewesen war. Weil uns niemand Ausnahmen beigebracht hatte.
These2: Vielleicht waren wir auch einfach blöd, aber lassen Sie uns mal bei der ersten These bleiben.

Benehmen wird in einer Eltern-Kind-Beziehung von den Eltern definiert. Sie erklären dem Kind, was es sagen darf oder nicht. Sie haben damit gleichzeitig die Deutungshoheit und die Macht. (Heute mag das anders laufen, aber beide Geschichten sind dreißig Jahre her)
Aber auch wenn heute Erziehung vielleicht anders läuft, dann ist – einen Schritt größer gedacht – Stil und Anstand immer etwas, was vom Mächtigerem definiert wird und das sich der Schwächere halten muss.

Denken Sie nur daran, dass es sich für Nesthäkchen nicht schickte, mit dem Hausmeistersohn befreundet zu sein, denken Sie daran, dass es sich für Frauen nicht schickte, einen Beruf auszuüben oder Fußball zu spielen, denken Sie daran, dass es sich für Rosa Parks nicht schickte, im Bus vorn zu sitzen, denken Sie daran, dass die Germanen für die Römer „Barbaren“ („[…] wird der Begriff abfällig in der Bedeutung „roh-unzivilisierte, ungebildete Menschen“ verwendet […] [Wikipedia]“) waren oder afrikanische Menschen allgemein „Wilde“ – immer definiert die eine Seite, was Anstand, was die Regeln, was der Standard ist – und macht damit gleichzeitig seinen Status noch fester. Und die andere Seite hat halt Pech.
Denn das, was der oder die andere möchte – egal ob einfach friedlich weiter Thor anbeten oder genauso friedlich auch Fußball spielen – kann ohne inhaltliche Auseinandersetzung einfach mit Verweis auf den fehlenden Anstand abgeschmettert werden.

Um aus der Position des Schwächeren heraus zu kommen bleibt nur, sich den Regeln zu unterwerfen – und damit aber auch den Hierarchien, die da gelten. Und damit wieder denjenigen, die die Regeln aufgestellt haben.
Der Barbar blieb also auf jeden Fall Untertan – egal ob er sich den Regeln und den Römern unterwarf oder nicht.
Die Frau blieb auf jeden Fall das benachteiligte Geschlecht, egal, ob sie sich dem Mann hintenan stellte oder nicht.

Oder das gute Benehmen wird gebrochen.

Picken wir uns nur mal die jüngere Geschichte der Emanzipation der Frau heraus, da haben die meisten von uns einen groben Überblick: Alles, was sich Frauen erkämpft haben, geschah gegen geltenden „Anstand“. Es schickte sich nicht, sich nicht mehr in Korsagen zu zwängen, es schickte sich nicht mal Hosen zu tragen, es schickte sich nicht, die Stimme zu erheben wenn Männer sprachen, es schickte sich nicht, den beliebtesten Sport auszuüben.
Noch heute sind laute Frauen „zickig“ und laute Männer „durchsetzungsfähig“.

Ja nun, man muss doch wissen, wann man auch mal »unhöflich« sein darf, weil es etwas Wichtigeres gibt!“, höre ich noch einmal jemanden sagen.
Eben.

Aber damit das funktioniert, dürfen nicht die definieren, was wichtig ist, die auch Stil und Anstand definiert haben.

Schauen wir uns an, wie mit Greta Thunberg oder überhaupt mit den Jugendlichen, die freitags auf der Straße stehen umgegangen wird: Monatelang war das Hauptargument gegen sie (zusammengefasst), dass sie sich nicht benehmen. Weil sie schwänzen. Weil sie freche Schilder in die Luft halten. Weil sie den Straßenverkehr blockieren.
Weil sie nach einem Jahr des ebenso ununterbrochenen wie ungehörten Kampfes einen vielleicht etwas „unverschämten“ Tweet los lassen.
Abgebügelt im Namen des Anstands und des guten Benehmens.

Übertragen auf ein rollendes Auto und einen brennenden Baum hieße das: Wir hätten gewartet, bis eine passende Gesprächspause der Erwachsenen entstanden wäre, hätten dann vorsichtig gefragt, ob wir kurz etwas wichtiges sagen dürften – wirklich wichtig? – Ja Mutter, ich denke schon – Ja, was denn mein Kind? – Ja Mutter, der Baum brennt.

Fassen wir zusammen: Die Welt ändert sich nicht, wenn Regeln von Sitte und Anstand nicht mal gebrochen werden.
Und deswegen bin ich es – excuse my french – verfickt leid miterleben zu müssen, dass über das Benehmen einer sechzehnjährigen und derer, die sich von ihr ermutigt fühlen, gesprochen wird. Statt über eine brennende Welt.
Wie viele Flutkatastrophen sollen passieren, wie viele Länder brennen, bis es auch der Anstand erlaubt, nicht auf die Gesprächspause der Großen und Mächtigen zu warten?

Verschiedene vollkommen ungeordnete Schlußbemerkungen:
Gutes Benehmen wäre übrigens auch, wenn man wenigstens Gretas Namen mal richtig und nicht straff deutsch aussprechen würde – aber das nur nebenbei.

Ich mag mich übrigens auch gerne über Respekt unterhalten – aber ich sehe einen großen Unterschied zwischen Respekt und Benehmen. Auch wenn gerade von Menschen die Benehmen sich selbst gegenüber einfordern gerne mal das Wort „Respekt“ dafür missbraucht wird.

Nein, mir macht es auch keinen Spaß, dass vieles von dem, woran ich so geglaubt habe gerade über den Haufen geworfen wird.

Wir könnten bei der Gelegenheit auch mal über Fehlerkultur sprechen. Darüber, was es über Menschen aussagt, die hören „Du bist scheiße“, wenn ihnen jemand sagt „Du machst einen Fehler“. Vielleicht, dass sie es selbst so benutzen? Nur so eine Idee.

3 Kommentare

  1. So unterschiedlich sind unsere Ansichten nicht. Respekt ja, natürlich. Ohne diesen geht es nicht. Ich habe noch heute über 250 ehemalige Schüler, die ich respektierte und die mich respektierten, mit denen ich in Kontakt geblieben bin, übrigens auch 10 Jahre nach Dienstende. Was das Brechen von Benehmensformen angeht, so sind dabei natürlich, und eigentlich keiner Diskussion bedürfend, besondere Situationen (Himmel, der brennende Weihnachstbaum, das Auto, natürlich) kein bösartiges Unterlaufen derjenigen.
    Wir sind uns sicher einig, dass es Grundformen des Zusammenlebens geben muss und soll, die auch Rücksichtnahme einschließen. Das gilt natürlich gegenseitig. Es schließt aber Anstand als Charakterform absolut nicht aus. Den hat man oder eben nicht, übrigens auch sich selbst gegenüber. Stil definiert sich aus subjektiver Position jeweils anders, jedoch immer mit einem gewissen Anspruch. Wenn wir von anderen, also uns voran Gegangenen , nichts lernen dürfen, wollen, möchten…dann ergibt sich zwangsläufig, dass wir in allem neu beginnen müssen, generell und auf allen Ebenen. Denn wer sagt mir, dass der Arzt, der Lehrer, der Professor an der Uni denn Recht haben sollte…Ein – nennen wir es Urgerüst – an gegenseitigem Anerkennen, auch der jeweiligen Leistung, und sei es durch eine entsprechende zugewandte Haltung oder wie immer man es definieren will, ist Grundlage jeden Zusammenlebens. Ob man das in Frage stellen will, muss jeder selbst entscheiden. Alles bleibt so lange Theorie, bis uns persönlich Dinge belasten oder belästigen. Wer noch ein Beispiel braucht, der betrachte den Raser auf der deutschen Autobahn, der sich sehr wohl an die Gegebenheiten eines anderen Landes halten kann, sie also respektieren ( oder es der drohenden Strafe wegen tut) und im eigenen rowdyhaft andere beiseite drängt, des eigenen Rasens Willen. Selbiger fühlt sich aber gestört von demjenigen, der einigermaßen zivilisiert Auto fährt (ich rede nicht über 100km/h-Fahrer auf dem Mittelstreifen). Sollen wir das dann akzeptieren, nur weil er die Freiheit hat, sich zu verhalten wie er möchte? Weil er jünger ist und neue Maßstäbe setzt? Gesellschaft an sich setzt immer Kompromisse voraus. Das ist wie in der Ehe. Das unflätige Benehmen des einen wird der andere entweder hinnehmen oder sich abwenden. Der eine still, der andere lautstark oponierend. Durch beides aber wird Unflätigkeit nicht besser. Sie bleibt stil- und anstandslos. Vielleicht versteht man so die Position besser. Man muss sie nicht teilen. :-) Übrigens habe ich bei vielen Auslandsaufenthalten, beruflich auch längere Zeit, festgestellt, dass die Umgangsformen der Generationen unter einander in keinem der Länder so übel waren, wie in Deutschland in den letzten 2 Jahrzehnten. Vielleicht sollte uns das Anlass sein, darüber nachzudenken, woran das liegen könnte. Oh, ein weites Feld, wie Fontane sagte…

  2. Mir werden hier zu viele Dinge durcheinandergeworfen. Ja, im Notfall darf und muss man natürlich deutlich und laut werden können, aber wollen wir wirklich Äpfel (brennende Tannenbäume) mit Birnen (Mediendiskussionen, die zumeist im Internet stattfinden) vergleichen? Ganz abgesehen davon, dass es, wenn man’s genau nimmt, in der Welt an allen Ecken und Enden „brennt“ … meiner Ansicht nach ist das eher der Normalzustand, nicht zuletzt auch deshalb, weil sämtliche zivilen Umgangsformen auf allen Seiten über Bord geworfen wurden und werden.

    Ich habe den im Ursprung verlinkten Artikel nicht gelesen, weil mich Medium und Autor aus unterschiedlichen Gründen seit geraumer Zeit ziemlich anwidern und ich sie daher meide, ich denke, sie haben beide nichts zu meinem Wohlbefinden beizutragen (was natürlich auch nicht ihre Aufgabe ist. Allerdings ist es meine, mich um mein Wohlbefinden zu kümmern und dazu gehört eben auch, Relotius Online und den Berliner Gockel rechts bzw. links liegen zu lassen).

    Natürlich finde ich es irrsinig, wie auf Greta Thunberg reagiert wird, hüben wie drüben. Das ist ein mutiges Mädchen – mit einer sinnvollen Agenda und Botschaft – das von allen Seiten instrumentalisiert wird. Und die Waffe der Unhöflichkeit wird auch und gerade von den Mächtigen eingesetzt, die damit von ihren eigenen (Un)taten ablenken wollen, das ist gezieltes Derailing. Wer unfreundlich und laut wird, hat deshalb nicht Recht sondern ist nur unfreundlich und laut. Ob wir (im Sinne von „die Guten“) uns diese letztlich ziemlich durchsichtige und sinnlose Taktik zu eigen machen sollten, nur weil wir aus lauteren Motiven handeln? Ich denke nicht.

    1. Keiner ist „der/die Gute“, keiner! Wir haben alle unsere Schwachpunkte, jeder irgendwo. Das hindert nicht daran, Gutes zu wollen, zu tun oder zu fördern. Und ja, da ist viel vermischt. Aber eine gute Suppe (um bei den eingängigen Beispielen zu bleiben) ist auch immer eine Mischung. Jetzt ziehe ich mich zurück aus der Diskussion, denn ich merke, sie tut mir nicht gut. Ich glaube auch fest, dass wir eigentlich Ähnliches meinen, nur der jeweils andere es anders liest, wie so oft. (Internetmissverständnisse, you know…)Übrigens lese ich den Autor aus ebendiesen Gründen sonst auch nicht mehr, schon länger. LG an die, die eine Meinung haben und sie auch äußern!

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