Das ist ja eine feine Frage im Fragen-Doc:
Welche Ausbildung haben Sie absolviert?
… denn darauf kann ich ja mit meinem feinen, vollkommen gebrochenen und zerfaserten, sich aber an überraschenden Stellen wieder zusammen findenden Lebenslauf antworten. Die kurze Antwort lautet:
Keine.
Also keine abgeschlossene. Aber dabei wollen wir das ja nicht belassen und ich zähle mal alle Stationen auf, die irgendetwas mit entweder einer Form der Ausbildung oder meinem jetzigen Lebenswandel zu tun haben:
- Mit sechzehn drei Wochen Praktikum in einer Werbeagentur.
- Mit neunzehn Zivildienst in einem offenen Jugendtreff.
(Damit kennen Sie die beiden großen beruflichen Themen/Interessensgebiete in meinem Leben.)
- Eingeschrieben auf einer privaten Grafiker-Schule. Kurz nach der Anmeldung fiel meiner Familie auf, dass „Schulgeld“ ernstgemeint war, sie das aber nicht zahlen wollten. Und ich durfte nicht hin.
- Dann eingeschrieben für Lehramt Sonderpädagogik, konkret in den Fachrichtungen Sprach- und Sehbehindertenpädagogik, für die Sek 1. Ich kam in ca drei Jahren bis ca in die Mitte des Hauptstudiums bis ich in einem Praktikum lernen musste, dass ich es auf Dauer mit Lehrerpersönlichkeiten nicht aushielt.
Dafür hab ich den Medizinschein noch gemacht und das hat eventuell der Liebsten mal ihrre Augen gerettet. Und genau: Deswegen hab ich auch meilenweiten Wissensvorsprung, wenn es um das Erstellen barriefreier Websites geht. Es ist doch immer alles für was gut. - Außerdem eine Menge an hauptsächlich pädagogischen Studi-Jobs bis hinauf in geradezu absude Verantwortlichkeits-Dimensionen, die Sie hier gern nachlesen können.
- Und meine parallel damalige „Karriere“ als Musiker sowie ihr Ende hab ich ja auch schon ausführlich aufgeschrieben (hier und hier) – und wie die dazu geführt hat, dass ich heute ein Album veröffentlicht habe und gerade am zweiten die finalen Arbeiten erledige, erzähle ich vielleicht auch mal. Wenn es Sie interessiert?
Nach dem abgebrochenen Praktikum erstmal eine überraschend große Ratlosigkeit, ein uninspiriertes Semester Dipl-Pädagogik aber neben der Inkompatibilität mit Lehrerpersönlichkeiten hatte ich auch begreifen müssen, dass das universitäre System und ich nicht zueinander passten.
Zum großen Glück der gesamten Menschheit hatte Tim Berners Lee aber wenige Jahre zuvor das WWW erfunden und es kam so langsam auch in meiner Welt an und ich verliebte mich sofort. Und erinnerte mich an alte Grafiker-Lieben und ein paar solide Grundkenntnisse im Coden und nannte mich Webdesigner. Lernen konnte man das damals noch nirgends – außer im Selbststudium bei selfHtml, was damals noch etwas vollkommen aderes war.
Ich führte also meine Studentenjobs weiter, besorgte mir parallel einen Gewerbeschein, abonnierte die i-worker-Liste und DrWebs RSS-Feed und warf mich ins Selbststudium. Codete daneben selbstständig für meine ersten Kundinne, veröffentlichte alles, was ich gerade gelernt hatte sofort auf www.html-workshop.de – und erwarb mir unter anderem damit einen ersten kleinen Ruf*. Mit ein paar Artikeln für DrWebs Bücher auch.
Nach ca zwei Jahren gründete ich mit einem Partner eine Agentur und beendete die Studi-Jobs endgültig; die Agentur gab es sechs Jahre und der Rest ist Geschichte.
Da das Web und alles was inzwischen dranhängt die schnellste technische Innovation ist, die die Menscheheit erlebt, ist und bleibt mein Leben ein beständiges Lernen. Meine Kernthmen HTML und CSS entwickeln sich schon permanent fort; daneben sprießen immer mal wieder Schauplätze auf, von denen ich immee wieder entscheiden muss, ob sie von Dauer sein werden oder nur eine sehr vorrübergehende Sau sind, die gerade durchs Dorf kommt und deswegen kann ich eigentlich am Ende sagen, dass ich keine Ausbildung absolviert habe, sondern immer noch mitten drin bin.
FunFact am Rande: Nahezu alle Lehrerinnen die ich kenne, leben in dem Welt- und Selbstbild, dass sie etwa mit Ablegen der letzten Referendariatsprüfung ausgelernt hatten und empfinden es als Zumutung, wenn sie sich mit einem neuen Thema beschäftigen sollen. Ich kann immer noch nicht gut mit diesen Menschen.
*) Ich habe heute noch Besucher, die aus der Literatur-Liste einer Uni irgendwo in Deutschland zu mit kommen – denn dort war ich zusammen mit dem erwähnten selfHtml als Quelle zum Lernen von HTML aufgeführt. Und diese Liste steht absurderweise auch Dekaden später noch online.
Sie haben Fragen? Sie wünschen sich ein Thema, über das ich mal bloggen soll?
Schreiben Sie’s auf!
Alle bisherigen Antworten finden Sie übrigens hier.
Ich finde es immer sehr spannend in der heutigen WebDev-Welt aus Javascript-Bootcamps und Studiengängen für Medieninformatik, dass wir mal eine ganze Generation waren, die sich einen Beruf im Prinzip über eine Kreuzung aus Wiki und Forum selbst beigebracht hat. And all we got was this lousy imposter syndrome.
Abgesehen von großer Liebe für Deinen letzten Satz rechne ich in den letzten Jahren immer mal wieder, ob ich die nächsten X Jahre noch schaffe mit diesem Konstrukt. Wobei X ja auch kaum näher einzugrenzen ist.
Auch so ein spannender Faktor: Wir sind die ersten, die in diesem Beruf alt werden. (Hier sehr mulmiges Gefühl einfügen.)