7.9.2021 – alles relativ

Stelle beim langsamen Aufwachen fest, dass ich ein paar Tage die Aufnahmen der Überwachungskamera nicht gesichtet habe. Sehe uns also im Zeitraffer über eine Woche lang rein- und rauswackeln. Zur Arbeit, von der Arbeit. Zum Briefkasten, vom Briefkasten. Zum See, vom See. Und abends als Schatten im kurz aufblitzenden Lichtschein, wenn wir die Haustür abschließen. Manchmal klingelt eine DHL-Botin, legt etwas ab und rennt wieder weg.
Es passiert absolut ü-ber-haupt nichts.

Hatten Sie als Kind auch gedacht, dass das Leben von Erwachsenen aufregend ist?

Nein, natürlich ist das gelogen. Bei der Liebsten im Job hat zum Beispiel gerade jemand nach mehreren Jahren Anlauf die Systematik der Zahlen bis 99 verstanden und vielleicht sieht die Aufregung einfach nur anders aus, als ich als Kind dachte.

Vormittags kam der Handwerker, der unserer Heizung beibringen soll, ihr Wasser wieder bei sich zu behalten. Die läuft nämlich inzwischen innerhalb von drei Tagen leer und das ist zum Beispiel eine Art von Aufregung, die ich nie wollte.
Auf Grund von zwei kleinen Missverständnissen kam er weder um zehn noch um den Wärmetauscher zu tauschen, sondern im Endeffekt um zwei, um festzustellen, dass der Wärmetauscher getauscht werden muss.

Nachmittags kurz Café Audi, bei Frau Doktor ein Rezept abgeholt, Laden, Apotheke, noch ein Laden und gleich kommt Risotto-Besuch.

(Nein, nicht der gleich beschriebene Platz. Passt nur ganz gut.)

Gestern auf der Straße, vor der HNO-Praxis auf die Liebste wartend, Menschen geguckt. Tu ich ja sonst her eher selten. Das Zen-Foto-Buch empfiehlt, sich mal drei Stunden lang an einen Ort zu setzen und zu beobachten. Na, das war ja schon mal ein Anfang.

Als wir aus der Tiefgarage hoch gekommen waren, meinte die Liebste noch: „In der Straße könnteste eigentlich gut ’ne Soap drehen: Winzig kurz, aber voller Leben, voller Widersprüche eigentlich.
Stimmt: Auf knapp hundert Metern am einen Ende die Commerzbank, daneben Apotheke und der Billig-Back-Shop und das Apotheken-Museum. Gegenüber die Filiale vom Sozialkaufhaus, die seit-Generationen-beste-Konditorei am Platz, ein Schuster-seit-1932, eine Boutique und zwei Galerien, dazwischen die Eingänge zu mehreren Ärztehäusern – von Kopfschmerz-Klinik bis zum ambulanten Gefässchirurg. Viele Therapeutinnen.
Rechts vor Kopf das große Parkhaus und eine S-Bahn-Station, links ein toter großer Platz, auf dem sich bei Sonne nur die Obdachlosen über die Bäume über den Bänken freuen.
Fünfmal wurde ich in der Stunde gefragt, ob ich einen Euro überhätte, dreimal hatte ich dann keinen mehr. Note2me: Trotz Kartenzahlpräferenzen Kleingeld dabei haben.
Wer gut gekleidet ist und aus dem Parkhaus kommt, geht strammen Schrittes in der Mitte durch, deutlich gewillt unangesprochen schnell durch die Straße und noch schneller über den toten Platz zu kommen. Und dann in die Fußgängerzone abzubiegen. Am Rande gehen langsamer die, die nicht mehr so gut können. Die nicht schnell laufen können. Die nicht modisch, vielleicht nicht einmal gekleidet sind, sondern etwas anhaben. Die ins Sozialkaufhaus wollen oder hoffen, vor dem Billigbäcker noch zwei Euro für ein Brötchen zu bekommen.
Der Sitzplatz auf dem Boden direkt neben der Tür zur Tiefgarage – vermutlich einer der besten, weil dort jede schon die Geldbörse zum Zahlen in der Hand hat – scheint im Rotationsverfahren vergeben zu sein: Immer sitzt dort jemand, selten der gleiche.
Im Vorraum der Garage steht neben den üblichen Bezahlautomaten aber jetzt auch einer, der „nur Karte kann“. Der gute Platz vor den Kassenautomaten wird an Wert verlieren, fürchte ich.

Die Händlergemeinschaft der Stadt beschwerte sich; sie hat ein Problem mit zu vielen Obdachlosen und Bettlern auf der Straße, hören wir im Radio. Ich denke: Die Stadt hat ein Problem mit ihrer Händlergemeinschaft, aber mit der Deutung stehe ich wohl ziemlich alleine da.

Uns geht es schon sehr gut, mit unserem langweiligen Alltag hier.

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