25.10.2020 – revolution!

Chronistenpflicht: Naja, so’n verregneter Herbstsonntag mit einer Stunde zuviel halt. Nachmittags zelebrierten wir das Heimkino, denn das wäre sonst ein typischer Tag mit Kino für uns gewesen. Vorher begann ich, die Funktionen von Twitter und ihren sinnvollen Umgang damit in eine Präsentation zu packen und nun denn.

Aber zu gestern, da entstanden, teilweise in Zusammenarbeit mit klugen Frauen in meinen diversen Messengern, noch ein paar Gedanken. Mir fehlt es noch an wirklicher Struktur, aber das bekommen wir schon zusammen hin, Sie und ich. Sie sind ja die klügsten Leserinnen der Welt und dürfen mir gerne zuschauen. Oder mitdenken, da bin ich nicht so.

Vorbemerkung: Mein Kopf denkt bei sowas gerne in Geschichten, die vielleicht etwas plakativ sind. Aber er kann sich dann an den simplen Quintessenzen halt gut festhalten.

Ausgangspunkt war ja meine Sorge, dass in dem in unserer Gesellschaft noch recht frischen Erkennen von Mansplaining vielleicht manchmal übers Ziel hinausgeschossen wird – quasi ein selektiver Blick darauf, dass alles, was ein Mann erklärt per se Mansplaining ist. Und der vagen Idee, dass das vielleicht normal ist, wenn ein Thema frisch und neu und kraftvoll ist und sich halt noch einpendeln muss.

Es ging weiter mit einer Erzählung eines Grünen Ortsverbandes, für die ich mal Fortbildungen machte; sie erzählten über ihre Gründungsmitglieder aus den 80ern. Dabei: Eine echte Hardcore-Öko-Frau. Fuhr zum Beispiel zur Arbeit mit dem Fahrrad in die Nachbarstadt. Gute 30 Kilometer pro Strecke und dabei hin und zurück je einmal übern Berg. Hin: 200 Höhenmeter hoch und wieder runter.
Also erstmal jemand, die man eigentlich sehr vorbildlich konsequent nennen könnte – aber leider war sie, so sagte man, eine unfassbar unangenehme Person. Vollkommen verbohrt, nicht zu Kompromissen bereit, meist etwas laut und schrill, wenn sie für die Durchsetzung ihrer Ideen sprach.

(Ihnen kommen da vielleicht einige Ideen darüber, warum Frauen als laut und schrill bezeichnet werden und ich kenne die vermutlich, wir wollen uns aber diese Beschreibung einfach bitte kurz merken, ich komme darauf zurück)

Als wir uns in dieser Fortbildungsmittagspause über sie und andere Grüne der ersten Generation unterhielten, entstand die Theorie, dass es zu Beginn einer gesellschaftlichen Bewegung diese „zu lauten, zu verbohrten, zu radikalen“ braucht.
These: Die stecken ab, was das Optimum wäre, was der neue Extrempunkt an denkbarem ist („mit dem Fahrrad zur Arbeit übern Berg – die spinnt doch“), sie bekommen den vollen Gegenwind. Und in ihrem Windschatten kommen dann die gemäßigteren Kolleginnen und die ehemalige Front des Widerstands der Gesellschaft bröckelt – denn die zweite und dritte Reihe, die sind ja gar nicht so plemplem, mit denen kann man ja reden und naja, „statt mit dem Auto mal mit dem Bus fahren, das geht ja auch“.
Soweit die Theorie dieses Tages.

Folgte ich dem, könnte ich also gut denken, dass sich im Moment vielleicht „ein bisschen viel“ über Mansplaining beschwert wird, aber dass im Laufe der Zeit schon eine angenehmes Gleichgewicht entstehen wird. Quasi automatisch – wenn Frauen sich nicht mehr so unangenehm laut darüber beschweren und Männer auch nicht mehr jeder alles unaufgefordert erklären.
Aber nee, das fühlte sich nicht richtig an.

Als nächstes Puzzlesteinchen fuhr mir eine sehr frische Erinnerung an die #blacklivesmatter – Proteste in den Kopf. „Warum müssen die denn gleich so gewalttätig und laut protestieren?“ war eine Frage, die ich in vielen Diskussionen las. Meist sofort beantwortet mit dem traurigen Satz: „Wir protestieren seit Jahrzehnten. Wenn wir leise und höflich sind, werden wir halt nicht gehört und irgendwann kochts dann halt mal über“.

Hm, machte es in meinem Kopf. Weiße möchten also über die Art des Protestes bestimmen, der ihnen noch genehm ist. Und wenn er ihnen nicht genehm ist – und bei Protesten gegen das eigene Verhalten kann man sich leicht ausrechnen, wann un-genehm beginnt – dann wird ihm nicht mehr zugehört.
Ergebnis: Schwarze werden weiter diskriminiert.
Nächster Gedanke: Die Grüne damals, die den Wald retten wollte, die war „laut und schrill und verbohrt“. Oder anders: Die Art, ihre Sorge um die Natur und ihr Anliegen vorzubringen waren also nicht genehm und wurden deswegen abgewürgt. Nicht der Sache wegen – so weit kam sie gar nicht.
Ergebnis: Der Wald ist im – excuse my french – Arsch, das menschentaugliche Klima haben wir auch hingerichtet.

Hm, machte es wieder. Vielleicht ist es also eigentlich gar nicht so klug, wenn die Vorreiterinnen verbrennen und dann danach die vernünftigen, pragmatischen kommen? Weil die bestehenden Strukturen nichts anderes tun, als den Revoluzzern ein paar Brosamen hinzuwerfen und sich im Endeffekt einen – excuse, ich rede halt so – Scheißdreck zu bewegen?

Mir schossen dann noch die freundlich lächelnden Politiker in den Kopf, die Greta und Luisa „gerne auch einmal einladen wollten, wenn die denn auch versprachen, wieder zur Schule zu gehen“ – und viele weitere Situationen, wo die bestehenden Strukturen als erstes mal und vor jeder sachlichen Auseinandersetzung darüber bestimmen wollten, wie viel Protest und in welcher Form sie den zulassen wollten. Um damit eben immer noch die Kontrolle darüber zu behalten, ob und wieviel sie sich denn ändern müssten.

Ich meine, im Ernst, dass muss man einmal denken: Da nutzt jemand seine Privilegien aus – jetzt egal, ob er sein Gift in die Luft bläst oder Frauen unten hält – und er ist so überzeugt von der eigenen Gottgegebenheit, dass er sogar bestimmen möchte, wie denn die Unterdrückte ihren Unmut zum Ausdruck bringen darf.
Wenn der Protest nicht genehm ist, dann ist er zu laut, zu schrill, ungehörig, nicht respektvoll genug, zu bunt, gegen die guten Sitten, hysterisch und was auch immer Menschen sich schon alles anhören mussten.

Vielleicht ist das für Sie alles nicht neu, aber Sie waren jetzt quasi live dabei, wie ich das einla durchdacht und in einen Zusammenhang gepackt habe. Also: Gewusst habe ich das alles schon, aber ich habe das Gefühl, mir ist eine nächste Stufe der Konsequenz klar geworden. Zum Beispiel für den Moment wo ich bei einem Tweet denke: „Ey, das war doch gar nicht gesplaint!

Für den schönen Rahmen noch der Chronistenpflicht Teil zwei:
Abendplanung: The Voice.

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3 Kommentare

  1. Für den Wald muss ich leicht wiedersprechen: Ja, aktuell geht es dem Wald wieder schlechter, es ging aber auch mal leicht bergauf zwischendrin, da durchaus Maßnahmen getroffen wurden, um den Zustand des Waldes zu verbessern (Stichwort Saurer Regen). In den letzten zwei bis drei Jahren (wenn man 2020 schon mitrechnet) geht es dem Wald aber wieder schlechter, hauptsächlich wegen der extremen Trockenheit, die durch den Klimawandel verursacht wird.

    Den Waldzustandsbericht, der auch die Entwicklung der letzten Jahre beinhaltet, kann man beim BMEL herunterladen. https://www.bmel.de/DE/themen/wald/wald-in-deutschland/waldzustandserhebung.html
    Nicht ärgern über die schlechte Webseite, bei mir wurde das PDF dann mit Session-Id abgespeichert. Überall Amateure am Werk. 🤦‍♂️

  2. Wenn ich den von mir genossenen Physikunterricht richtig erinnere, ist doch der Energieaufwand für eine Richtungsänderung am Anfang der Zeitachse am größten, erzeugt dann auch die stärkste Reibung und nimmt gegen Ende der Zeitachse ab.

    Also logisch, dass die Vorreitenden, Vorkämpfenden als so grässlich empfunden werden – sie haben noch den größten Widerstand (ach, die „Trägheit der Masse“ fällt mir noch dazu ein) zu überwinden, brauchen die meiste Kraft und erzeugen also die stärkste Reibung.

  3. „– und bei Protesten gegen das eigene Verhalten kann man sich leicht ausrechnen, wann un-genehm beginnt –“

    Das Problem ist halt, dass der gewalttätige Protest gegen Sachen nicht unbedingt und immer die Richtigen trifft sondern zumeist sehr grob mit der Schrotflinte bzw. dem Molotow-Cocktail verteilt wird und jede Menge Kollateralschäden verursacht.
    Das wird dann von linker Seite gern relativiert („aBeR dIe NaZiS bELaSsEn Es NiChT bEi GeWaLt GeGeN sAcHeN!!11“ ) und verharmlost („die Kapitalistenschweine sind doch versichert“) oder aber es folgt die klassische Opfer-Täter-Umkehr („naja, was stellen die ihren Twingo auch neben den Bonzenmercedes, da muss man doch mit rechnen, dass der mit abfackelt!“).

    In meinem Fall würde ich ausschließen, dass ich *istin bin und daher auch, dass ich gewalttätige Proteste gegen *ismus selbstverständlich hinzunehmen hätte. Natürlich weiß ich, dass im Jahr 2020 andere Menschen bestimmen, ob ich *istin bin oder nicht und ich deren Urteil widerspruchslos anzunehmen und die gerechte Strafe demütig hinzunehmen habe. Die Gedankenpolizei ist gleichzeitig Richterin und Vollstreckerin, schon klar. Selbst zaghaftes Hinterfragen der den Zweck heiligenden Mittel ist Hochverrat.

    Gut finden kann ich Gewalt gegen Sachen trotzdem nicht, bei allem Verständnis für die Wut und den Schmerz der Unterdrückten. Aber nun umgekehrt zum selbstgerechten Unterdrücker zu werden ist in meinen Augen keine Lösung. Gewalt kennt keine Sieger, nur Opfer.

Kommentare sind geschlossen.

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