Ich habe Sie ja nun schon viel zu lange mit kryptischen Andeutungen über diese bekloppte Idee genervt oder angeteasert – je nachdem. Aber da ich ja – mit beiden Beinen fest auf dem Boden der verifizierbaren Wissenschaften stehend – fest daran glaube, dass es mir Unglück bringt, vorher zu erzählen, ging das nicht anders.
Nun aber ist es erzählbar und ich will Ihnen die Auflösung nicht schuldig bleiben.
Die Idee ging so (ich muss etwas ausholen, denn die Idee wurde erst durch verschiedene Vorbedingungen zu einer nicht ganz einfachen):
- Am 19. Juli vor beeindruckend vielen Jahren haben die Liebste und ich uns vor einem erschreckend humorfreien Standesbeamten und zum Glück einer großen Gruppe von Freunden gesagt, dass wir es echt gut miteinander aushalten und damit weiter machen wollen.
- Vor ca einem halben Jahr fragte eine Freundin der Liebsten sie, ob sie beide wohl am 17.7. zusammen in Berlin ein Theaterstück besuchen wollten? Ja gern, aber am 19. wollte sie wohl wieder nach Hause kommen, konterte die – und es wurden Hotels gebucht und Tickets gekauft.
- Am 22. stand – obwohl wir ja beide Ferien haben – ein Termin im Kalender.
Sie haben das sicher aufmerksam mitgerechnet – bis jetzt alles kein Problem, alles passt hintereinander, niemand ward verletzt.
Vor wenigen Wochen entdeckte ich, dass Tina – Sie wissen schon, oder? die heißgeliebte Tina Dico – am 19.7. in der beinahe ebenso geliebten Lieblingsstadt Aarhus ein Konzert spielen würde. Ein Konzert in ihrer Heimatstadt also, da wo so besonders viel Liebe in der Luft liegt wenn sie spielt. Und nicht in irgendeiner schnöden Mehrzweckhalle, sondern Open Air im Tivoli in Aarhus, der ja auch sehr schön sein soll.
Ich bekam leichtes Ziehen im Sehnsuchtszentrum und ein logistisches Problem, denn ich wollte da unbedingt hin. Und begann, kleine Zeiteinheiten zusammen zu puzzlen und auf Durchführbarkeit zu prüfen:
Wenn …
… die Liebste am 19. morgens statt in den Zug ins Sauerland in den nach Hamburg steigen würde …
… wenn ich gegen sieben mit dem Auto in Richtung Norden aufbrechen würde …
… dann könnten – wenn wir alle pünktlich wären Zug, Auto, Liebste und ich gegen halb zwölf in Hamburg aufeinander treffen.
Wenn …
… wenn wir dann gut durchkämen …
… und ich noch eine Hotel-Reservierung bekäme …
… dann könnten wir gegen fünf im Hotel sein, ein ganzes Stündchen ausruhen und dann zu Fuß vom Hotel die halbe Stunde zum Tivoli laufen.
Und wenn …
… wir noch auf einer Liste gelandet wären – denn Tickets gabs nicht mehr – könnten wir das Konzert sehen und dort unseren anniversary feiern.
Ein vollkommen stringenter Plan mit wenigen Unbekannten, nicht wahr? Auch für einen Menschen der unter Stress gerne mal mit Panik reagiert, der mit Menschenmassen oder Ferienanfangs-bedingt übervollen Großstadt-Innenstädten total gut kann und auf Grund seines Schreibtischjobs geübt ist, längere Spaziergängen sicher leicht zu meistern?
Sehen Sie, deswegen nannte ich es einen bekloppten Plan.
Es ging tatsächlich alles auf. Ein kurzer überraschender Moment war nur noch, als ich – gerade mit gedämpfter Radio-Lautstärke zum Hamburger Hauptbahnhof navigierend – ein Satzfragment darüber hörte, dass sich gerade von Australien über Asien aus nach Europa ein Computerfehler ausweitete und ich kurz a) über den gerade ausgebrochenen dritten Weltkrieg und dann b) über Folgen für die Ladesäulenstruktur auf deutschen und dänischen Autobahnen nachdenken musste.
Dann aber sprachen alle im Radio schon in der Vergangenheitsform, ich verstand, wieso ich kurz vorher umsonst geladen hatte und ich war beruhigt.
Kurzer Einschub zum Hauptbahnhof in Hamburg. Mit 16 erwarben ein Freund und ich ein sogenanntes Tramper-Ticket, den kleinen, nur deutschlandweit gültigen Bruder des Interrail-Tickets. Der Hamburger Hauptbahnhof war damals quasi eine unserer Homebases, immer ein solider Startpunkt, um von dort aus eines der damalig 10 anderen Bundesländer zu erreichen oder von HH-Altona (23:13Uhr) bis Köln HBF (5:58 Uhr) mal durchzuschlafen. Unsere Hood sozusagen, wohlvertraut und so behaglich wie man es nach drei Wochen ohne regelmäßige Dusche mit 16 nur finden kann.
Heute bekomme ich vom Bahnhof hauptsächlich darüber etwas mit, dass Maximilian durchgeht und es ganz erschreckend übervoll und eher unangenehm findet.
Abgesehen davon, wie wundervoll unwahrscheinlich es ist, dass zwei Menschen an verschiedenen Stellen Deutschlands aufbrechen – eine mit der deutschen Bahn, einer am ersten Ferientag Norddeutschlands mit dem Auto – um sich also dort zu treffen und innerhalb eines 5-Minuten-Intervalls dort ankommen, nachdem Autofahrende Teil direkt vor dem Bahnhof geparkt hat und der Bahnfahrende pünktlich ist? … ich gleite ab, aber: Mein Gott, ist das da voll und unangenehm.
Wir suchten uns den nächsten Ladepunkt, landeten am Scandicenter, einer Art achtem Höllenkreis in dem reisende Deutsche ihr letztes und reisende Dänen ihr erstes Bier kaufen, luden dort aber problemlos und fuhren weiter gen Norden. Wir hatten feines Wetter, sonnig, klar, aber nicht zu heiß, wir liebten die flache Landschaft, die Brücke über den Fjord in Vejle und besonders die letzten Kilometer nach Aarhus runter, wenn man den langen Hügel hinabfährt und sich in der Lücke zwischen den Hügeln einmal die ganze Stadt von Nord nach Süd zeigt.
Kann man eine bessere Adresse als „Strandvejen“ haben? Eben. Deswegen diesmal nicht das Super-AirBnB, sondern wieder das Lieblings-Hotel, ein Stündchen Schlaf und Meditation und dann zu Fuß hauptsächlich am Meer entlang die halbe Stunde zum Tivoli, wo das Konzert statt finden sollte.
Kurzer Einschub zum Thema „Open Air-Venues in Innenstädten“. Bisher war da der Kölner Tanzbrunnen die unangefochtene Nummer eins. Schön direkt am Rhein gelegen über dem dann im Lauf eines Konzertes mit dem Dom im Hintergrund die Sonne unter geht, hinten die Brunnen und vorn die Zelte und um einen herum die hervorragenden Kölner – das ist toll da.
Aber leider – sorry, Köln – am Freitag auf Platz zwei abgestiegen. Der Aarhuser Tivolipark ist ein ganz wundervoll bezaubernde Angelegenheit, im besten Sinne ein Vergnügungspark in dem das Vergnügen nicht nur daraus besteht, sich möglichst schnell in einer Maschine um die eigene Herzlinie bewegen zu lassen. Der Ort feierte gerade ein Blumenfest, man wurde erschlagen von Zauberhaftigkeit und dann tat sich ein weiter Platz mit einer großen Bühne am Ende auf. So in eine kleine Kuhle gebaut, dass man auch 100m vor der Bühne noch über alle anderen hinweg sehen konnte. Darüber kreisten Möwen, dahinter ein Stückchen Wald und dahinter dieses spezielle Licht, das man nur sehen kann, wenn dort das Meer liegt.
Sorry Köln, echt.
Wenn Tina in Deutschland spielt, dann meist inzwischen in feinen Konzerthallen wie Elphi oder Kölner Philharmonie; wenn Menschen in Deutschland an Tina denken, dann loben Sie meiste die intime Atmosphäre, wenn Tina alleine mit der Gitarre auf der Bühne steht. Im Radio findet sie hier nicht statt.
In Dänemark ist Tina seit 20 Jahren ein Popstar mit Airplay, Nummer-Eins-Platzierungen und aktuell wieder mal einem vollen Festival-Sommer und das ist einer der Gründe, warum ich manchmal gern in den Norden fahre – denn ich will beide Seiten erleben. Und wir wurden nicht enttäuscht, wir bekamen die Rock-Show, inklusive Tänzerin, wogenden und mitsingenden Menschenmassen, geschwenkten Handylampen, inklusive einer tanzenden Tina und einem Gitarrensolo mit Geigenbogen und Rückkopplungskrach – es war wunderbar.
Ja, ich weiß, Sie waren alle bei Taytay und das klingt alles lächerlich. Das kann man nicht vergleichen – das ist keine andere Liga, das ist ein anderer Sport.
Wir trafen noch die Organisatorin der dänischen Fan-Community und tauschten unser Glück aus – erwähnte ich mal, wie sehr ich es liebe, wenn dieses Hobby mich auch noch mit netten Menschen überall verbindet? (Sehr)
Am Samstag liebten wir das Frühstück am Meer, saßen viel am offenen Fenster und guckten Meer und Möwen zu, schlufften mal mit der Kamera in der Hand die 500m rüber zum Infinity Walk*, fuhren nachmittags in die Stadt, nur um auf dem Rooftop wieder zu sitzen (Schokoküchlein! Smørrebrød!) und dann noch in der neuen Markthalle eine wirklich hervorragende Bowl zu essen.
*) Etwas „andere“ Bilder von diesem Infinty Walk finden Sie übrigens im Fotoblog. Ja, man kann Strand und Meer in schwarz-weiß fotografieren.
Am Sonntag liebten wir das Frühstück am Meer, saßen noch so lang eben möglich am offenen Fenster und landeten so gegen elf auf der Autobahn. Keine Einzelheiten, es waren elfeinhalb Stunden und elf statt siebeneinhalb ist einfach zu viel.
So weit der bekloppte Plan und was ganz gut an ihm aufging, so weit der bekloppte Plan und die Teile an die ich mich erinnern möchte. Nicht erinnern möchte ich mich später daran, dass mein Körper die ganze Zeit im Alarmzustand war, dass die Umstellung von diversen Wochen Arbeit am 120%-Limit auf „und jetzt was Schönes“ nicht funktionierte und ich in einem 3-tägigen Panik-Modus lebte. Dass jede Kleinigkeit ein beständiger Kampf war mit viel Veratmen, ständigem Aufsagen meiner eigenen Mantren, der ständigen Gefahr, jeden Ort sofort verlassen zu müssen falls die Panik doch zu groß würde.
Donnerstag wollten wir nach München fahren, quasi die Wiederholung des letztjährigen Trips aber diesmal zu zweit. Freunde wollten wir treffen, Franz Marcs Museum besuchen und wir haben es abgesagt, weil es unmöglich geworden war. Es kostete einige Tränen, zwei ausgefallene Besuche bei Herzensmenschen und ganz nebenbei ca 500,-, weil wir kein Zimmer mit Stornierung bis zum Anreisetag mehr bekommen hatten.
Seit Sonntag Abend schlafe ich hauptsächlich, daher kommt dieser Artikel auch erst jetzt. Daher leuchtet mein Handy rot vor roten Badges an allen Messengern, aber ich kann die lieben Nachrichten, die ich dahinter weiß, gerade nicht schaffen.
Ich möchte das überhaupt nicht in Erinnerung behalten, aber ich muss es und die nächsten drei Wochen Ferien müssen Platz haben für ein paar sehr grundsätzliche Überlegungen zu work und life und balance.
Danke fürs Teilhaben und Dabei-sein. Wenn Sie wollen:
Hier können Sie mir ’ne Mark in die virtuelle Kaffeekasse werfen,
Oder – wenn Ihnen Geld zu unpersönlich ist – hier ist meine Wishlist. Sie finden dort formschöne und Freude-spendende Geschenke für wenige oder auch sehr viele Euro.
Wow, heftig! – Das wird jetzt vielleicht eine Woche oder länger wehtun. Und da haben Sie durchaus mein Mitgefühl und ich wünsche ganz gute Besserung.
ABER
Stellen Sie sich vor, Sie hätten es nicht getan und Sie hätten sich lieber nicht getraut. Ich glaube, dass hätte viel länger, viel mehr wehgetan. Deshalb: Alles richtig gemacht, auch wenn es jetzt wehtut. Sie werden sich irgendwann erholen und können später dann zur Liebsten sagen, weißt du noch 19.07.2024? Und jedesmal wird ein breites Grinsen über ihr Gesicht gehen. Herzlichen Glückwunsch!
Was Pauline schreibt.
Du hast es gemacht, du hast es veratmet und die Mantren haben gewirkt. Du hast jetzt Werkzeuge, um solche verrückten Ideen nicht nur zu träumen, sondern umzusetzen. Gut, oder? Die Nebenwirkungen sind hart, aber die vergehen. Ich wünsch dir, dass sie schnell vergessen sind und das wunderschöne, verrückte bleibt.
Und Glückwunsch zum speziellen Tag! Mögen weitere fünfzig oder so dazu kommen.
„Du hast alles, aber auch alles richtig gemacht.“
Jo.