Heute* vor 24 Jahren setzte ich mich hin, warf noch einen letzten Blick auf die meiner Meinung nach damals absolut ausreichend gefüllte deutsche Blogosphäre, begutachtete aber auch noch einmal meine eigene Rampensauigkeit. Nickte dann zufrieden und lud unter der Adresse www.raum-im-netz.de/jawl etwas hoch, was ich „jawl“ nannte.
„Just another weblog“. Ein logischer Name, wenn man a) denkt, man ist die letzte, die auf den Zug aufspringt und b) vorher ein bisschen mit Linux gespielt hat, wo damals bereits als Standard YaST, Yet Another Setup Tool mit seiner Sperrigkeit den ersten Schritten im Weg stand.
*) Vielleicht war das aber auch am 3.4. – ich kann das leider nicht mehr herausfinden, behaupte aber a) seit Jahren dass es der zweite war und will mich b) außerdem so gerne direkt in diese wunderschöne Reihe junger Hüpfer einreihen: hotelmama und Herr Buddenbohm – nur das Allerbeste auch Ihnen!
Da mir diese Blog-Dienstleister schon damals alle ein bisschen obskur erschienen, schrieb ich – so wie ich es damals berufsmäßig schon gewohnt war, HTML in einen Editor und lud das ganze dann auf meinen eigenen Server hoch; mein Umstieg zur Blog-Software Sunlog kam erst ca ein Jahr später.

Damals schon ca ein Jahr dabei – und damit ja nun wirklich ein alter Hase – begrüßte mich bald der Schockwellenreiter auf allerschärfste und dann gehörte ich dazu. Und war schnell ganz ok gut mit den anderen 25 vernetzt – so gut, dass ich im Sommer sogar schon den ersten Shitstorm meiner persönlichen Geschichte initiieren konnte, als ein junger BWL-Student sich die Domain jawl.de kaufte und dort los-bloggte. „Inspiriert von Christians jawl sah auch ich mich hier in diesem phantastischsten Zukunfts-Medium mit seinen tollen Synergie-Effekten“ oder sinngemäß ähnlich schrieb er sogar in seinen ersten Artikel.
Meine Synergie-Effekte schrieben ihm dann die Kommentare voll und erwähnten dabei gelegentlich seinen offensichtlich schlechten Charakter sowie die fehlende Kreativität während ich mir voller Aufregung gleich die zweite Domain meines Lebens reservierte: jawl.net
Er ist schon 23 Jahre wieder weg und der Rest ist Geschichte.
Als wir etwas über ein Jahr später auf dem Rückweg von unserer Hochzeitsreise durch den Ort kamen, in dem damals Johannes wohnte – mit dem ich schließlich schon seit ein paar Monaten per Kommentar lustig hin und her-schrieb – lud ich mich auf ein Frühstück ein. Der Liebsten ihre Tante, die der Grund war, warum wir überhaupt in dem Örtchen Halt machten und die Liebste strichen derweil in nervösen Runden über den örtlichen Marktplatz, weil man damals einfach wusste, dass man beim Treffen von Bekanntschaften aus dem Internet immer ausgeraubt und getötet und entführt wird. Ich wurde nichts davon und Johannes hat, auch wenn wir uns nur selten sehen, einen großen Platz in meinem Herzen.
Im Laufe der Zeit kamen noch andere Menschen dazu, die wir uns zum Teil sogar regelmäßig trafen oder auch mal zusammen** zum Konzert gingen.
**) Cool, wusste gar nicht mehr, dass ich das gesagt habe. Klingt aber nach mir.


(ca 2006 & 2009)
Ich schrieb für 20 Menschen am Tag, ich schrieb für 12000 Menschen*** am Tag und sprach sie seit damals alle im kategorischen Femininum an. Ich traf die damals sogenannten A-List-Blogger und lernte, dass Alphamännchen eben Alphamännchen bleiben und schlechtes Benehmen nicht davon abhängt, ob man in einem neuen, coolen Kommunikationsmedium unterwegs ist oder nicht. Ich machte Ableger auf und wieder zu, verscheuchte mit wochenlangen Kanack-Sprak-Interpretation klassischer Märchen drei Viertel meiner Leserinnen und hatte auch sonst den ein oder anderen Spaß, der sich heute gar nicht mehr erklären lässt. Ich war nie berühmt, nie A-List, aber knapp unter dem Radar fast immer exakt so bekannt, wie ich es aushalten konnte und wenn ich heute eine Mail an andere Blogger aus dieser Zeit schreibe muss ich mich nie mehr vorstellen.
***) Ja echt: zwölftausend. Damals bloggte ich regelmäßig über die Popstars-Staffel, (die, die Monrose hervorbrachte) und der „Erfolg“ trieb mich dazu, ein Jahr später ein eigenes Fan-Magazin dafür aufzusetzen. Mein Passwort für ProSieben-Pressebereich funktionierte noch lange Jahre lang und wussten Sie eigentlich, wie oft auch die sogenannten Qualitätsmedien einfach nur unredigierte Pressemitteilungen veröffentlichen?.
Über die Jahre begann ich statt des täglichen Einerleis eher so Grundsatzartikel zu diesem und jenem verfassen, schrieb nicht mehr (vor Twitter sogar mehrmals) täglich, sondern nur noch, wenn die Energie für mehrseitige Arbeiten reichte. Außerdem hatte ich das tiefe Gefühl, nicht mehr im Ansatz überblicken zu können, was da alles von mir im Web zu lesen war und das ganze Ding fühlte sich an wie ein Tanker in voller Fahrt ohne Sicht, Radar oder Funk und ohne Ahnung, was da eigentlich geladen war.
Januar 2018 zog ich den Stecker. Wenn Sie nostalgisch drauf oder schlicht neugierig sind: Die guten Sachen von damals hab ich hier rüber gerettet.
Das Gefühl, nicht mehr vernünftig angebunden zu sein, trieb mich im Sommer des Jahres kurz zu medium und das will ja nun wirklich niemand – also machte ich im August 2018 mit einem Donnerhall, einen wahren Manifest quasi dieses Blog hier auf.

Im Laufe der Jahre kamen und gingen Menschen; kamen nah oder sogar näher, manche gingen auch wieder und insgesamt bin ich einfach sehr froh, wie das gerade läuft. Und noch froher, dass Sie jetzt gerade hier sind, denn der Satz****, der aus einer Freundin eine ehemalige Freundin machte, stimmt ja gar nicht:
Das ist doch alles nichts Echtes, Christian
Doch doch, das ist was Echtes. Nur anders als sie es kennt und will.
****) Nein, natürlich war es nicht nur der eine Satz – aber er fasst so schön ihren immer aggressiver zum Ausdruck gebrachten Widerwillen gegen die meisten Dinge, die so tue, zusammen.
Dieser Rückblick, für den ich sogar eine alte externe Festplatte gesucht, angeschlossen und durchsucht habe(!), zeigt mir vor allem einen riesigen Wandel in diesem Web. Von sehr viel Aufbruchstimmung und Kreativität, Spaß und Mut von einzelnen Menschen, die begeistert bereit waren dieses neue Medium zu gestalten zu einem Walled Playground von Tech-Milliardären, denen hauptsächlich daran gelegen ist, dass da überhaupt niemand etwas gestaltet. Und der Großteil der Menschen macht begeistert mit, weil es ja alles so shiny ist und alle drei Sekunden das Dopamin-Zentrum kickt, wenn der kleiner Hasskommentar über den falschen Gebrauch von Emojis neue Likes bekommt.
Ich hätte lange geglaubt, dass mein alter Glaube daran, dass das Web die Welt zu einem besseren Ort machen würde, schon vor Jahren komplett verschwunden ist – aber die letzten Monate zeigen mir, wie viel Platz da noch nach unten war.
Dieser kleine, übrigens vollkommen zufällig passierte Rückblick zeigt mir aber auch – und ich meine das ganz un-selbst-beweihräuchernd – wie wichtig unsere kleinen unabhängigen Orte im Web sind. Und ich bleibe in meinem festen Glauben: Egal, ob es 20 oder 12000 Menschen sind, zu denen man schreibt – wenn nur eine Leserin dabei ist, der es hilft oder gut tut oder den Tag rettet, was eine von uns schreibt – dann hat es sich gelohnt.
Morgen erzähle ich Ihnen dann, wie widerlich es ist, heutzutage in diesem Internet begehrte Konzertkarten zu kaufen. Ja, ich hab wirklich fast alles von dem alten Glauben verloren.
Aber vi ses!
Sie lesen abseits des üblichen Tagebuchblog-Betriebs auch gern mal so eine Geschichte? Sie möchten sich bedanken? Hier steht die Kaffeekasse und wenn Sie finden, Geld riecht unangenehm, dann freue ich mich auch über Überraschungspost von der Wishlist.
Ich bin noch nicht soooo lange treue Leserin, erst ein paar Jahre, aber ich bin megadankbar, dass Du schreibst! Habe Dich schon öfter zitiert/empfohlen und freue mich immer auf und über Deine Sicht bestimmter Dinge.
Hoffentlich bloggst Du noch ganz lange!
Vielen Dank für diesen Rückblick, er war sehr interessant und ich habe mehrfach genickt.
Insbesondere bei den A-List-Bloggern.
Ganz herzlichen Glückwunsch – bei mir sind es erst 15 (+2 Jahre) Bloggerzeit und manchmal schaue ich bei der wayback machine vorbei und reise in meine eigene Vergangenheit zurück …..
Danke für den tollen Rückblick. Und wie echt das alles ist. 🥰
Häppie Börsdäi tu ju,
Marmelade im Schuh,
Aprikose in der Hose,
Häppie Börsdäi tu ju.
*trööötundkonfetti
Finde ich megagut und großartig, dass wir uns übers bloggen kennen lernen durften.
(24 Jahre sind quasi ein VierteljahrHUNDERT.)
Ich sag einfach mal Danke für 24 Jahre schönes schreiben.
Da ich schon lange – aber sicher nicht von Beginn an – hier (und vorher anderswo) mitlese, habe ich das mal zum Anlass genommen auch noch mal meine eigenen Anfänge nachzuvollziehen. Im als HTML Seite runtergeladenen Archiv meines ersten Versuchs (über parsimony.net) u.a. dieses hier gefunden in meinem 3. Eintrag (25.09.2004)
„Das Verb „bloggen“ gibt es nämlich im Deutschen so noch gar nicht und man streitet sich jetzt, ob es mit einem oder zwei Gs geschrieben wird oder werden soll. Mir gefallen 2 besser und außerdem heißt es zwar „to blog“ aber „Blogger“ und überhaupt.
Kommt mir alles sehr lange her vor und ist es schließlich auch.
Diese „aber du kennst die Leute doch gar nicht in echt, willst du die wirklich treffen“ Diskussion mit Familie u.ä. kenn ich aus dieser Zeit aber auch noch sehr gut. Auch wenn es da eher um Fan-Foren und nicht Blogs als solche ging. Immer nur ganz wunderbare Erfahrung damit gemacht dieses „Risiko“ einzugehen…
ich lass ein herz da und sage: schön, dass es dich gibt!
Ich sollte mir mal wieder angewöhnen, Blogbeiträge im Blog zu kommentieren und nicht auf einem SoMe Kanal – hier hält es vermutlich länger. Darum also nochmal:
Happy Blogday, lieber Christian!
Ich bin ja erst seit 15 Jahren dabei und hab das alles verpasst, deshalb finde ich es schön, grade überall die Rückblicke auf die Anfänge zu lesen. Und ich hoffe darauf, dass es kein Ende nimmt!