Ich muss noch einmal kurz zum Bohemian-Rhapsody-Flashmob zurück kehren; ich mach’s auch kurz, werfe ein paar Infos rein und zwei, drei kurze Sätze und Sie können sich das selbst zusammen setzen.
- Das Video wurde aus mehreren Takes zusammen geschnitten. Ich möchte das Wort „Flashmob“ also vielleicht nicht mehr so gern hören.
- Der Gesang der Background-Sängerinnen wurde per AutoTune* korrigiert.
- Das Klavier zB nicht, deswegen passen Klavier und Stimmen nicht so 100% zueinander.
(Quelle/Analyse, via Giardino, Danke dafür!)
Oder, in anderen Worten: Das ist eine von vorne bis hinten durchgeplante, durch-choreografierte Show, die auf die Verbreitung im Internet hin aufgezeichnet wurde und nicht eine mehr oder minder spontane Aktion für den Spaß auf der Straße.
Ich habe nichts gegen von vorne bis hinten durchgeplante, durch-choreografierte Shows, aber ich möchte sie dann nicht als „spontan auf der Straße“ verkauft bekommen, denn dann fühle ich mich betrogen.
*) Falls Sie den Begriff nicht oder nicht in der Tiefe kennen: AutoTune ist eine Technik, mit der man Audiosignale, am liebsten Stimmen, nach der Aufnahme in der Tonhöhe ändern kann. Man kann das so extrem tun, das man es als Effekt hört – zB bei Cher oder quasi unhörbar, denn entwickelt wurde es, um technisch nicht guten Sängerinnen zu helfen, gerade gesungene Aufnahmen zu produzieren*.
Zweiteres ist inzwischen so Gang und Gäbe, dass ich vermute, dass die Techniker das bei dem Video ohne weitere Gedanken und vor allem ohne hinzuhören gemacht haben – weil sie es halt immer tun und nicht, weil die Stimmen nicht zum Klavier passten.
**) Sieht man C-, D- oder E-Promis aus anderen Show-Bereichen „auch mal ’ne Single aufnehmen“, dann ist im fertigen Produkt garantiert sehr viel AutoTune im Einsatz – meist ohne dass die jeweiligen Personen das auch nur erahnen und sich dann freuen, wie gut sie singen. Je nach Hybris-Grad passiert dann auch so etwas: sie müssen irgendwo live singen und das erheitert uns dann alle.
Irgendwann fragte mich jemand, an welcher Stelle denn jetzt eigentlich mein Kulturpessimismus einsetze und ich möchte das gern auch noch einmal kurz erläutern:
- Ich sehe viele Reaction-Videos und/oder Snippets bei Insta, wo jüngere Menschen erstaunt sind, dass zB Queen oder andere Sängerinnen aus den 70ern und 80ern ganz phantastische Harmonien singen und sehr gut in Tune sind, ohne dass das aus dem AutoTune-Effekt kommt.
Sie kennen das nämlich nicht. Sie wissen nicht, dass mensch das kann. Sie können sich kaum vorstellen, dass man so singen kann, weil die Kunst des Gerade-Singens in ihrem Leben keine ist, die noch nötig ist und damit auch nicht mehr gelehrt wird.
Es geht also künstlerische Ausbildung verloren. - Um „perfekt“ gerade zu singen, hat es vielleicht auch mal eine oder auch 20 Aufnahme-Versuche mehr gebraucht. Aber während dieser 20 Aufnahmen nacheinander wurde nicht nur die Tonhöhe besser, sondern auch der Ausdruck in der Stimme. Wenn ich heute als Sängerin nach dem zweiten Take fertig bin, weil den Rest ja AutoTune macht, geht also auch Ausdruck verloren.
- Gleichzeitig sind unsere Hörgewohnheiten an absolute technische Perfektion gewöhnt und wir werden Musik, die dem nicht entspricht eher ablehnen. Es geht da also eine Schere auf, zwischen Anspruch und Können.
Wussten Sie übrigens, das das Klavier auf der Originalaufnahme von Bohemian Rhapsody leicht verstimmt ist? Wussten Sie, dass Johnny Cash bei „One“, Leonard Cohen bei „Hallelujah“, Kurt Cobain bei allen Liedern selten einen Ton zu hundert Prozent treffen?
Emotion beim Hören kommt nicht aus der technischen Perfektion, sie kommt aus dem Ausdruck, aus der Beschäftigung mit dem, was man da sagen bzw singen will. Egal, ob es dann am Ende etwas hoch oder tief ist.
Ich halte es nicht für Zufall, dass quasi alle Song-Reaction-Video-Creator hauptsächlich in den 70ern bis 90ern wildern. Prä AutoTune also.
Mein Kulturpessimismus kommt also daher, dass ich Kunst sterben sehe. Egal, ob bei einer Coverband, die sich nicht mit dem beschäftigt hat, was sie nachspielt, bei Sängerinnen, die glauben, nicht singen können zu müssen weil sie gar nicht mehr wissen, wozu das nötig wäre, bei Plattenfirmen, die den vierten oder fünften Take nicht mehr bezahlen, weil AutoTune billiger ist als noch eine Stunde Miete für die Gesangskabine.
Und zum Schluss noch ein Video von einer meiner Lieblings-Reaction-Frau, wo sie eine junge Sängerin dabei beobachtet, wie die – ohne Wissen dieser ganzen Scheiße so singt, wie man eben heute singt. Und weil man heute mit hörbarem AutoTune („Cher-Effekt“) singt, hat das Mädchen sich das Singen eben auch so beigebracht. Bitte denken Sie sich hier einen wirklich großen Emoji mit explodierendem Kopf vor.
Und jetzt wäre ich ja gerne mit dem Thema durch.
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Super interessante Kontext-Videos, vielen Dank. Ich fühle mich in meinem Urteil „ überinszenierte Pseudo-Spontaneität“ bestätigt :-)
Gern geschehen :)
Schöner Begriff, muss ich mir merken.
Vorweg: soweit ich sehe, läuft der Flashmob und Insta und Insta öffne ich aus Prinzip nicht, habe es also nicht gesehen.
Aber spannend finde ich, dass das gerade so ein wenig die jahrzehnte alte Diskussion von Rock vs Pop ist, von Authenzität und Echtheit gegen Künstlichkeit und Inszenierung – geführt an einer Band, die einerseits das ultimate Rockklischee lebte, andererseits natürlich Meister der überbordend inszenierten Künstlichkeit war.
(und ja, solange ich den hier https://www.youtube.com/watch?v=0EOV2NgNMuM und die hier https://www.youtube.com/watch?v=Ry3Cnw9D5Ws oder https://www.youtube.com/watch?v=zZ6Z4_XJyKU dieses Jahr noch live sehen konnte, glaube ich an die Zukunft des kompetenten und geschulten Singens – bin aber natürlich als Mitglied von Team Inszenierung geoutet)
Oder um es weiterzudenken: Der Unterschied zwischen Holiday/Aelbgut/Kings Singers zu Queen ist natürlich ähnlich riesig wie der zwischen Queen und den Autotune-Flashmobbern. Aber das ist vollkommen okay, denn es sind verschiedene Kunststile.
So doch gesehen: halt Stil Unterhaltungs-Musical, Karte plus Übernachtung für 250 Euro und eine Hafenrundfahrt durch Hamburg.. nicht meins, aber als Entertainmentform sicher schon hundert Jahre alt. Und ich sehe mindestens vier deutlich erkennbare verschiedene Kameraperspektiven. Da wollte niemand den Anschein erwecken, dass es spontan und ungeplant war.
Die Zahl der Kameras würde für mich jetzt gar nix machen – es pricht ja nicht gegen Spontanitöt, sich rechts und links aufs Klavier zwei iPhones zu legen.
Und ich bin sicher, dass Menschen zumindest an den OneTake glauben – weil es heißt doch „Flashmob“?
Ich habe ja nichts gegen Inszenierung. Ich konnte auch damals prima in Hamburg sitzen und wusste: das sind gar keine Katzen auf der Bühne – wahlweise in Bochum mit dem Wissen, dass es keine Züge sind.
Aber hier wird dem Intenetpublikum etwas vorgetäuscht, was nicht Inszenierung, sondern halt Vertuschung ist.
Und: Die Inszenierungs-Echtheitsdebatte hat ja nix damit zu tun, ob man seine Kunst beherrscht, oder die Inszenierung benötigt, um was-weiß-ich für ein fehlendes Können zu vertuschen: dass ich gar keine 5 Minuten durchtanzen kann, dass ich gar keine Töne treffe, whatever.
„Spontanitöt“ ist auch ein großartigesr Verschreiber in diesem Zusammenhang.
*lach*
Oh ja.
Meine Güte ist das schlecht. Das wird ja immer schlimmer.
Entschuldige, aber ich musste sehr über diesen nachgeschoben Kommentar lachen.
Dass das Bohemian-Videos durchgeplant und komplett gestaged ist sieht man ihm ja an – als derjenige, der das ganze hier bisschen zum rollen brachte, setze ich zumindest bei den Lesern des Newsletters so viel Medienkompetent voraus ;-)
Ansonsten: Alle Punkte gekauft. Absolut.
Das Video zum Schluss aber ist wild. Hier der geforderte Emoji, weil er passt: 🤯
Für die Neugierde: Siehst Du einen Unterschied zwischen einem One-Shot und einer Film, der aus mehreren, verschiedenen Durchläufen oder sogar takes („jetzt noch mal den Refrain!“) zusammen gesetzt ist?