Gestern morgen Schreibtisch, weiterhin in erstaunlicher Ruhe und sehr genossener Belanglosigkeit. Es hat sich eine Sommer-Ruhe über alles gelegt und das ist schon ganz ok so. Heute Abend werde ich die Schilde hochfahren und auch erst einmal aus diesem Büro verschwinden; vorher aber vermutlich noch ein paar freundliche „Hey, wir haben zuletzt vor drei Monaten gesprochen – haben Sie sich entschieden, wie es weiter geht?“-Mails schreiben.
Gestern Nachmittag nach langer Zeit mal wieder mit der Schwester im Herzen gesprochen und das war durchaus anstrengend, denn die hatte viel zu erzählen und schön war das alles nicht. Mitten drin kam dann eine Nachricht aus Dänemark: Unsere Superhost hatte ihr, also DAS Appartment doppelt belegt und unser geplanter Urlaub löste sich erst einmal in Luft auf. Ich greife etwas vor: Später haben wir noch eine Lösung gefunden, aber zuerst war das ein ziemlicher Schock – hatte ich mir doch gerade erlaubt, mich auf etwas zu freuen.
Heute morgen zuerst mal ein Päckchen zur Post gebracht. Erst musste ich vor dem Haus einer alten Freundin parken – sie wohnt da schon lang nicht mehr und zog sich aus mir unbekannten Gründen schon vor Jahren aus meinem Leben zurück. Auf dem Rückweg kam ich dann an irgendeinem Kinder-Ferien-Spaß-Dings vorbei und erinnerte mich an die sieben Jahre (siehe #10 hier), in denen ich da jetzt mit den Kindern gespielt hätte. Im Moment eh etwas melancholisch gestimmt, erwischte mich eine üble Nostalgiewelle.
Andererseits heute morgen eine Welle mit „bleibt’s bei unserem Treffen?“-Nachrichten verschickt und alle Beteiligten freuen sich vor und ich auch und das ist ja nun auch mal sehr schön – vor allem als Perspektive, wenn man gerade in Nostalgie abzurutschen droht.
Dann so den letzten Kram gemacht, der vor dem Urlaub möglich war – ist es Urlaub, wenn man nicht richtig wegfährt? Ich sage ja! – und überraschenderweise prasselte dann ab ca. 15:00 Uhr noch alles rein, was irgendjemand wichtig schien. Während ich mir die von der Kundin gewünschten Änderungen notierte, klagte mir die Agentur ihr Leid: Sie hatte doch eigentlich heute nur noch den letzten Kram machen wollen, denn sie fahren ja morgen in den Urlaub und auf einmal prasselte so ab ca. 14:30 Uhr noch alles rein, was irgendjemand … naja, Sie kennen die Geschichte.
Die letzte Kleinigkeit muss dann morgen früh sein.
Seit Tagen ruft immer mal wieder eine mir unbekannte Nummer an und erwischte mich mit großer Treffsicherheit in Situationen, in denen ich nicht dran gehen konnte. Heute dann immerhin nur im Auto und das geht ja meist, um wenigstens kurz zwei, drei Sätze zu sprechen:
- Ja, mein Name ist Maria Musterfrau von der BlaBlubb-Energieberatung und wir haben gerade die großen Energieberater-Tage und …
- Moment!
- … da unsere Berater da gerade bei Ihnen in der Gegend sind würde ich gerne…
- Halt, Moment!
- … mit Ihnen einen Termin ausmachen, wann den ein Berater bei Ihnen mal schauen kann,…
- Nein.
- … wie das auf Ihrem Dach so aussieht.
- Lassen Sie mich zusammenfassen: Sie machen ColdCalls und wollen mir etwas verkaufen.
- Aber Nein!
- Nein?
- Nein, wir wollen Sie beraten!
- Lachen. Auflegen.
Lieblingssatz des Tages: „Ey Klimakleber, ich schätze ja Euer Anliegen, aber dass Ihr ausgerechnet mich blockiert, das kann doch nicht richtig sein.“ Von jemanden, der gerade (ab)fliegen wollte.
Still a long way.
For something completely different: Danke!
Bei IG auf eine Anzeige gestoßen: Ein Programm, das mir für jeden Song, jedes Sample, auch für YouTube-Videos und ähnliches sofort Tonart und Tempo anzeigt. Live heißt es. Allgemein schon not too bad und im Speziellen für jemanden die mit einem so schlechten Gehör gesegnet ist wie ich eine Offenbarung.
Also auf zur Website, kurz über den Preis geschluckt, aber muss ja. Beim Warenkorb dann überlegt, dass ich ja schon PlugIns des Anbieters habe und überlegt, mit welcher E-Mail-Adresse. Das Mailprogramm aufgemacht und nach dem Anbieter gesucht:
Ah, eine Mail.
Ah, da hab ich noch im März gekauft.
Was denn? Oh. Ich habe Live gekauft.
Habe ich es auch heruntergeladen? Womöglich auch installiert? Ups. beides ja.
Das Programm gestartet – nein, ich hab es noch nie gesehen.
Mir sagt das zwei Dinge: ich muss mein GAS in den Griff bekommen und brauche Urlaub.
Also: Schilde hoch. Kommen wir zum …
Zeugs
Wolfgang Rüger ist Antiquar und als solcher – natürlich – auch auf amazon angewiesen und dort präsent. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen: Er hasst es. Und erzählt im Interview in der FR ein bisschen aus dem Leben eines Händlers bei amazon:
Seit über 20 Jahren bin ich jetzt der Sklave von Jeff Bezos. […]
Arno Widmann interviet in der FR
Die perfekte Diktatur. Als Händler haben Sie bei Amazon nur Pflichten und absolut keine Rechte. Für Amazon zählt nur der Kunde. Die Händler werden behandelt wie der letzte Dreck
[…]
Kaufen Sie bei Firmen mit geraden Buchpreisen, denn dort arbeiten Menschen, denen ihre Waren und Kunden wichtig sind, und nicht Maschinen, für die nur die Gewinnoptimierung zählt. Das Internet ist heute in jeder Hinsicht eine gigantische Wertevernichtungsmaschine.
Antiquar Wolfgang Rüger: „Ich bin Sklave von Jeff Bezos“
Ich hatte ja gestern schon meiner persönliche nicht-Geschichte der Blogs, Christian Buggisch hat mal die Geschichte von Social Media aufgeschrieben. Und sogar in einem einzigen Bild zusammen gefasst – und ich musste sehr lachen: Das Bild besteht aus drei Strichen, ist damit komplett und trifft zu 100%.
Tja, damals […] 2004 folgte Facebook, 2006 Twitter. Seitdem ging die Post ab bei diesen Plattformen, die Nutzerzahlen stiegen in Milliarden-Höhen, Blogs und user generated content boomten, Bild, Bewegtbild und Audio kamen dazu, das Internet war keine Einbahnstraße mehr mit wenigen Sendern und vielen Empfängern, das Cluetrain Manifest von 1999 war in weiten Teilen Wirklichkeit geworden.
Und dann lief irgendetwas schief. Oder besser gesagt: einiges.
Christian Buggisch:
Die Geschichte von Social Media in einem Bild
Und? Heute schon mit Ihrem inneren Kind gesprochen? Das ist ja im Moment recht populär, vor allem in der Instagram-Coaching-Szene – logisch, denn die Versprechen der Coaches sind mindestens lifechanging, wenn nicht besser. Krautreporte Martin Gommel, der sich ja genauso wie ich, nur mit viel mehr Zeit, Professionalität und daher lesbaren Ergebnissen an dieser Coaching-Szene abarbeitet, war auf einem Seminar und hat durchaus interessantes erlebt:
Ich möchte verstehen, ob die Beschäftigung mit dem inneren Kind wirklich helfen kann. Also beginne ich bei denjenigen, die genau das versprechen.
[…]
Höher hätte Asano seinen Kurs nicht hängen können. Schließlich hat er alle Gefühle aufgezählt, die Menschen Schwierigkeiten bereiten und macht Hoffnung, all das auflösen zu können.
[…]
„95 Prozent. Fast alle Gefühle, negative, unangenehme Gefühle, die du heute als Erwachsener hast, kommen aus deinem inneren Kind“, sagt Asano. „Aber du siehst auch das enorme Potenzial, was hier drinsteckt. Weil, wie wäre denn dein Leben, wenn diese 95 Prozent der negativen Gefühle einfach verschwunden wären?“
95 fucking Prozent? Verschwinden lassen? Einfach so? Mein Leben wäre ein absoluter Traum! Asano sagt das so locker nebenher, mit der Gewissheit eines Wissenschaftlers, der gerade eine Studie mit über 10.000 Proband:innen gemacht hat und diesen Anteil herausgefunden und kompliziert berechnet hat. Allerdings ist er kein Wissenschaftler, und es gibt diese Studie nicht.
Bis dahin also noch die meiner Meinung nach unverantwortlich überhöhten Versprechen, die in dieser Szene üblich sind. Dann wird’s aber ganz spooky:
Ich schließe das Fenster, melde mich aber noch einmal beim Kurs an. Unter anderem Namen.
(beide) Martin Gommel bei den Krautreportern:
[…]
Ich lache hysterisch auf, als ich sehe, dass der komplette Chat genauso abläuft wie einen Tag zuvor. Dieselben Menschen mit denselben Namen schreiben dieselben Nachrichten. Und es sind wieder 167 Leute da! Ich mache einen Screenshot.
[…]
„Webinaris kann dir dabei helfen, einen 100 % Live-Charakter bei deinen automatisierten Webinaren zu erzeugen – wenn du das denn willst. So kannst du beispielsweise mit Umfragen arbeiten, erfundene Teilnehmer in den Webinarraum einführen und diese sogar mit von dir vorgefertigten Chat-Nachrichten miteinander chatten lassen.“
Undercover im Online-Heilungsseminar
Abschließend: Ich finde das Bild des „inneren Kindes“ als Bild gar nicht so schlecht, um eine Metapher dafür zu haben, dass wir alle unter anderem viel davon geprägt sind, was wir als Kinder erlebt haben. (Sie haben „Metapher“ und „Bild“ im letzten Satz gelesen, ja?!) Sie haben Das innere Kind aber für alles verantwortlich zu machen ist Unsinn und übersieht mal eben ganz galant unter anderem, dass psychische Krankheiten oft auch einen köperlichen Anteil haben. Und mit einem Hormonungleichgewicht können Sie diskutieren wie Sie wollen.
Außerdem: Wie so oft wird ein gut gedachtes Prinzip hier bis zur Unkenntlichkeit eingedampft und vereinfacht, bis die letzte Gabi zwischen zwei RTL2-Sendungen die richtigen Kampfrufe aufsagen kann. Leider ist es nicht so einfach, was da bei uns allen im Kopf passiert.
Wissen Sie noch? Covid? Ach ja, die letzten Jahre, das war da blöd. Aber is’ ja vorbei. Ja? Kann man auch anders sehen:
Was halten Sie von dem oft gehörten Satz: Wir müssen mit dem Virus leben lernen?
Julia A. Noack im Interview in der nd:
Das ist einer meiner Lieblingssätze (lacht), weil wir haargenau das nicht tun. Das Virus stellt eine Gefahr für unsere Gesundheit dar, mit der wir uns arrangieren müssen, wie wir mit anderen alltäglichen Gefahren umgehen. Es gibt nicht nur die Extreme vollkommener Risikovermeidung oder völligen Leichtsinns. Jeden Tag wählen wir einen Weg dazwischen und lernen, mit alltäglichen Risiken zu leben, indem wir Vorsichtsmaßnahmen treffen und unser Verhalten im Bewusstsein von Restrisiken steuern. Unseren Kindern setzen wir einen Fahrradhelm auf und schnallen uns im Auto an. Bei Covid tun wir das nicht. Wir leben nicht mit dem Virus, wir ignorieren das Vorhandensein des Virus oder dessen Auswirkungen komplett. Mit dem Virus leben zu lernen, würde bedeuten, das Risiko zu minimieren. Eine Maske ist wie ein Fahrradhelm, Testen ist wie Zähneputzen. Mit kleinen Maßnahmen könnten wir riesige Verbesserungen erreichen.
Umgang mit Covid: »Ich bin krass enttäuscht«
Wenn Sie hier öfter reinschauen, dann wissen Sie, dass eines meiner Lieblingsthemen unser Schulsystem ist und ich da – wie viele andere auch – eine Menge Luft nach oben sehe. meist sprechen Eltern und Lehrkräfte über die Schule, aber hier spricht einmal jemand, der gerade drin steckt im System: Ein Schüler. Und er hat eine Menge Ideen (Bevor Sie bei „Schüler“ abwinken: Es besteht eine 98,2 prozentige Wahrscheinlichkeit, dass er intelligenter ist als Sie. So sorry.):
Fritz ist beispielsweise gut in Mathe und in Deutsch nicht so gut. Und Laura kann beides gut. Fritz könnte Mathe von zu Hause und Deutsch weiterhin in Präsenz machen. Laura könnte beides von zu Hause aus machen. Der Vorteil wäre, dass Fritz, der ja nicht so gut in Deutsch ist, mehr Zeit mit der Lehrkraft hätte, weil Laura und andere Schülerinnen von zu Hause aus arbeiten. Außerdem bin ich mir sicher, dass das hybride Lernen auch gut für Mobbingopfer, Menschen mit ADHS oder Autismus ist. Viele von ihnen schaffen den kompletten Schulalltag nicht. Die volle Stundenanzahl vor Ort ist für viele eine Belastung.
Und wer soll aus deiner Sicht entscheiden, wer zu Hause bleiben darf und wer nicht?
Das Kind natürlich.
Lucie Wittenberg im Interview mit Jonathan beim Redaktionsnetzwerk Deutschland:
„Ich mache das für alle, für die dieses Schulsystem nicht geeignet ist“
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Diese ,,Innere-Kinde-Sache“ und was diese widerlichen ,,Coaches“ damit machen macht mich total wütend. Das ist meiner Meinung eine Sache für eine Psychotherapie, da geht es um kindliche Traumata.
Übrigens ist das ,,innere Kind“ nicht nur eine Metapher: In bestimmten Situationen *sind* wir plötzlich wieder das kleine Kind, das seine Wut nicht unter Kontrolle bringt, das panisch Nähe sucht, dass sich angstvoll wegduckt usw.
Danke für’s Teilen/Freischalten des Krautreporter-Artikels.