12.7.2023 – die alten Zeiten

Gestern morgen ist die Liebste mit einer Freundin an die See gefahren. Und ich muss es mal festhalten: Früher hab ich in einer solchen Situation mehr Einladungen zum Essen bekommen. Es ist also nicht alles schlecht.
Am Schreibtisch weiterhin im besten Sinne nichts zu erzählen; mein neues, strengeres Listen-Management scheint zu funktionieren. Nur als eine Kundin, der ich einen Gestaltungsvorschlag geschickt hatte, anrief und sagte: „Als hätte ich es gemacht!“ ist mir natürlich wirklich rausgerutscht „Und das ist jetzt gut oder schlecht?“ Zum Glück kennen wir uns schon lange.

Neulich in einer Fabrik:

  • Chef, ich hab eine ganz tolle Maschine erfunden. Sie löst für uns riesig viele Transport-Probleme.
  • Super, Meier, zeigen Sie mal!
  • Hier Chef, hier steht sie.
  • Na, Meier, die ist aber ganz schön groß. Wie groß ist die denn, was wiegt die denn so, wenn die beladen ist?
  • 20 mal 4 mal 2.6 Meter. Und 40 Tonnen werden es sein, Chef.
  • Und die kann von einem Menschen bedient werden, Meier?
  • Aber ja, Chef.
  • Und der kann die bewegen, Meier, ohne dass drumherum jemand zu Schaden kommt? Wir müssen ja auf unsere Betriebssicherheit achten!
  • Tja, Chef, man kann vom Führerstand aus leider nicht so gut sehen, was drumherum los ist.
  • Und dann überfährt man die anderen Mitarbeiter, Meier? Da müssen wir aber noch Sicherheitsmaßnahmen anbringen?
  • Nein Chef, keine Sorge. Da machen wir einfach bunte Aufkleber drauf!
  • Super Sache, Meier!

Sie meinen, das würde in keiner Fabrik der Welt so gehen? Meine ich auch.

Sie fragen, Christian antwortet

Können Sie mal einen so richtig hübsch nostalgischen Rückblick auf die frühen Tagebuch-Blogger-Jahre aus den ‚goldenen Jahren‘ verfassen? So richtig hübsch mit Anekdoten, Blick hinter die zeitgeschichtlichen Kulissen und so? (Ich habe irgendwo anders mal einen Artikel über ein Blogger-Treffen gelesen, das für jemand deutlich später in diese Welt hinein schauenden Menschen sehr spannend.)

(aus dem Fragen-Dokument)

Oh. Ich fürchte: Nein, das kann ich nicht wirklich. Aber Stück für Stück: Die goldenen Jahre, wann waren denn die? Waren die 2002, nachdem ich dachte, ich wäre nun der letzte, der so ein Blog beginnt, sich deswegen diesen Namen jawl ausdenkt und dann feststellt, dass er nicht der letzte, sondern einer der ersten ist? Waren die 2005, als die Blogmich in Berlin alle die versammelte, die damals A-List (so nannte man damals die „wichtigen“ mit über 1000 Leserinnen) waren oder sich dafür hielten? Waren die 2007/08, als die sogenannten Mama-Bloggerinnen auf der Bildfläche erscheinen? 2017, als die Tagebuchblogs nochmal einen kurzen Hype erlebten und viele alte Bloggerinnen ihre verstaubten WordPress-Backends mal wieder aufsuchten?
Was sicher allen gemeinsam ist: Jede dieser Wellen – und vermutlich noch ein paar andere, die ich gar nicht mit bekommen habe – nahm sich als die erste Welle wahr und schaut heute etwas nostalgisch darauf zurück, wie toll das damals war. Und jede dieser Wellen war doch auch nur eine Bubble, die alles vor sich nicht kannte und alles später kommende als Kopien wahrnahm.

Anmerkung 1: Falls Sie, liebe Leserin irgendwann in diesen Jahren auch gebloggt haben: Ich meine niemanden persönlich, sondern fasse Phänomene so zusammen, wie ich sie wahrgenommen habe.
Anmerkung 2: So ist das übrigens immer, bei allem, was Menschen tun. Schauen Sie sich nur 18-jährige an, die gerade Led Zeppelin entdecken!

Blickt man zurück, dann ist sicher auch jeder Welle gemeinsam, dass sie sich zuerst finden musste, zuerst Regeln verhandelt wurden, dass dann eine Hochphase folgte und dass die dann auslief und verebbte. Mit dem Bloggen zu beginnen ist eben sehr leicht, dranzubleiben eben nicht so sehr.

Manchmal spalteten diese Diskussionen über die Regeln sogar die Bubbles. (Denken Sie sich hier einen Querverweis zum Leben des Brian und der Volksfront Judäa)
2001/02 haben wir zB diskutiert, ob man Links in einem neuen Fenster öffnen darf (ging damals unentschieden aus). Dann, ob das Platzieren von Werbe-Bannern auf dem Blog Ausverkauf ist (vielleicht), dann, ob ein Auftrag aus der Auto-Industrie Ausverkauf ist (da ist die Bubble dann implodiert).
Parallel stritt man, ob es das oder der Blog heißt und natürlich könnte jede mit einem Fitzel Resthirn wissen, dass das Wort von „Weblog“ kommt und deswegen „das Blog“ die einzig gültige Form sein kann und jede die was anderes behauptet nur … nein, nur Spaß. Ehrlich.
Ich bin bei den meisten dieser Diskussionen schon sehr lange sehr leidenschaftslos und beobachte viel lieber die gesellschaftlichen und soziologischen Prozesse dahinter – und vor alle ihre stete Wiederholung: Schauen Sie doch nur mal zu Mastodon im Moment und wie da gerade um den korrekten Gebrauch gestritten wird!

Nur zur Auflockerung und ohne Zusammenhang ein Bild von vorhin; ich nenne es „Im Freibad

Die von Ihnen erwähnten Bloggertreffen waren damals ein großes Ding. Hauptsächlich, weil in der allgemeinen Wahrnehmung dieses Internet noch ziemlich unserös schien und die breite Masse sich nicht vorstellen konnte, warum man sich mit wildfremden Menschen treffen sollte – also jedenfalls nicht, wenn es dabei nicht um Sex gehen sollte. Ich finde, das sagt mehr über die breite Masse als über sonst wen aus, habe den ersten anderen Blogger 2002 besucht; wir hatten noch nie Sex, aber er zählt heute zu meinen ältesten Freunden und ich bin sehr froh, dass er immer noch in meinem Leben ist.
Naja gut, ganz eventuell saßen damals die Liebste und ihre Tante in einem Café 500m Luftlinie entfernt und waren doch schon sehr aufgeregt.
Und als wenig später in Köln ein kleiner Kreis zum ersten Mal aufeinander traf, da hatte eine der Beteiligten hinterher über 50 verpasste Anrufe ihres Mannes und der war gerde auf dem Weg in die Stadt um nach ihr zu schauen.
Fassen wir zusammen: Bloggertreffen waren aufregend, weil sie eben neu waren. Weil man Menschen traf, die einem gleichzeitig sehr vertraut und nach herkömlichen Maßstäben vollkommen fremd waren – und dieser Zauber hat sich meiner Meinung nach auch erhalten. Ich werde nächste Woche eine sehr liebe Freundin treffen, die ich seit 14 Jahren kenne und noch nie getroffen habe – und das lässt sich Offlinern schwer erklären. Als die Liebste 2006 das erste Mal bei dem oben schon erwähnten kleinen Kreis dazukam, stellte sie hinterher auch fest: Faszinierend, wie ihr geredet habt, als kenntet Ihr Euch seit Jahren und Euch doch teilweise noch nie gesehen habt.

Zeitgeschichtlicher Kontext? Oh Gott. Ich glaube ja, dass Blogs mal kurz deswegen wichtig waren, weil sie das erste Konstrukt waren, dass das Versprechen des Internets, dass jeder aktiv daran teilhaben könne einlösten. Aber sie waren technisch noch zu kompliziert und zu viel Arbeit, so dass nur eine kleine mitteilungsbedürftige Techie-Bubble sie nutzte. Mit den sogenannten sozialen Netzwerken wurden sie für die große Masse – so sie denn vorher Blogs kannte – dann vollkommen uninteressant, denn die kümmert es nicht, wenn ihre Daten woanders liegen und sie keine Kontrolle darüber haben wie und wo und in welchem Umfeld ihr Essens-Bild gezeigt wird.
Aus den Blogs, die beim jeweiligen Sterben einer Welle übrig geblieben sind, sind in den meisten Fällen professionelle Magazine geworden – oder so kleine, vollkommen belanglose Nischenprojekte wie das, was Sie hier lesen oder wie die, die Sie in der Blogroll finden.
Nachdem sich die ersten Tagebuchblogs und die Werbeindustrie noch sehr vorsichtig angenähert hatten, war die Mama-Blog-Welle sicherlich noch einmal wichtig für die Komerzialisierung der Blogs: Hier gab es eine sehr klare Zielgruppe und viele Mamas waren froh, wenn nicht sogar stolz, wenn ihr kleines Mama-Tagebuch sogar noch 50,- / Monat abwarf. Und die Werbeindustrie übte das üble Ausnutzen anderer, das sie heute im sogenannten Influencer-Relation-Marketing perfektioniert hat.

Ok, zum Schluß doch noch eine Anekdote: Als sich (Skandal!) das erste Mal vier Bloggerinnen an die Autoindustrie verkauften, da gab es auch einen Wettbewerb – als Preis eine Digitalknipse: Man sollte ein Foto machen, wenn man die Bloggerinnen mit ihren Testwagen in the wild antraf. Bei vier über ganz Deutschland verteilten Autos eine eher mutige Sache. Da ich aber eh mit der einen Bloggerin befreundet und verabredet war, haben wir dann ein Foto gemacht und die gewonnene Knipse hat der Liebsten lange Zeit gute Dienste geleistet. Ob das so gedacht war? Sicher nicht. Ob sich damals Leserinnen abgewandt haben, weil ich die Aktion nicht verdammte? Aber sicher. Ob das verjährt ist? Hoffentlich.

So. Nostalgisch war das jetzt sicher nicht, denn ich bin nicht nostalgisch. Meinen Schmerz über die Entwicklung des Webs habe ich überwunden – aber immerhin ist mir nach dem spontanen „nein“ zu Beginn meiner Antwort doch noch eine Menge zu schreiben eingefallen. Ich habe meine besten Freunde und viele meiner Kundinnen über dieses Internet gefunden – das ist schon schön so wie es ist.

Anmerkung: Ich nehme an wegen eines ungeschickt ausgeführten mir unbekannten Shortcuts hatte ich den Absatz über Bloggertreffen zuerst nicht veröffentlicht und dann später aus der Versionsgeschichte rauskopiert und wieder eingefügt..

Sie lesen abseits des üblichen Tagebuchblog-Betriebs auch gern mal so eine Geschichte? Sie möchten sich bedanken? Hier steht die Kaffeekasse und wenn Sie finden, Geld riecht unangenehm, dann freue ich mich auch über Überraschungspost von der Wishlist.

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