10.8.2024 – Sie fragen, Christian antwortet

Abgesehen davon hätte ich gern die Gedanken und Erkenntnisse zum Thema Fine Line.
(die Fragen bezieht sich auf die hier erwähnte „fine line“ zwischen Weltgeschehen nicht ausblenden und dabei seelisch heile bleiben)

Aus dem Fragen-doc

Das ist natürlich ganz einfach: Wenn Sie ein empathischer Mensch mit Hang zu Weltleid und Verzweiflung sind, dann verschieben Sie Ihre Grenze ruhig ein, zwei Schritte in Richtung Selbstfürsorge. Wenn Sie zum Grübeln neigen und seit Monaten über nichts anderes als das Schlimme in der Welt nachdenken, dann auch ruhig drei oder vier. Wenn Sie als Kind schon mit Aktenkoffer, Bommelschuhen und Lederschlips in der Schule die Sammelbildchen vom Kiosk teurer weiter verkauften, dann verschieben Sie Ihre Grenze hingegen vier oder fünf Schritte in Richtung Weltrettung – ebenso, wenn Sie eine Yogaschnatze sind, die vor lauter Selfcare nicht mehr dazu kommt, weiter zu gucken, als in den eigenen Tee-Schrank. Falls Sie ernsthaft glauben, dass es ja reicht, wenn jede an sich selbst denkt, auch; und wenn Sie Christian Lindner sind, gehen Sie bitte jetzt. Dieses Blog ist nicht für Sie gedacht.
Bei allem Hang zu flapsigen Antworten und vollkommen im Ernst verbirgt sich in diesem letzten Absatz ja genau das Dilemma: ich kann mich immer mit irgendjemand vergleichen die self-cariger oder weltrettender drauf ist und kann immer jemand finden, die mich gut dastehen lässt. Wobei „gut“ ja nichtmal definiert ist. Ich bin also gesellschaftlich relativ ratlos und bar einer Antwort.
Worauf ich mich festnageln lasse sind höchstens diese zwei Sätze:
Es ist schon wichtig, gelegentlich auf die eigene Kraft selbst zu achten – vor allem, wenn man sich „aktivistisch“ in irgendeinem Maße engagiert, denn das kostet Kraft und ist oft deprimierend: Aber nicht so viel, wie gerade alle denken. Wer auch immer „alle“ sind.
Und: Mit dem aktuellen Level an Weltrettung haben wir uns als Gesellschaft in die Scheiße reingeritten, das reicht also nicht.


Was bedeutet für dich Kreativität?

Aus dem Fragen-doc

Wie immer bei Fragen, bei denen sofort ein ganzer Rattenschwanz an Dingsis und Grabenkampf-Optionen aufgeht, erstmal formal und vermutlich nichts neues: Creare = erschaffen, wenn mein Latinum auch nur noch einen Cent wert ist. „Wer etwas herstellt, ist kreativ.“ – irgendwie recht nah daran bewegt sich auch mein Gefühl erstmal.
Ergänzend finde ich, dass ich dieses Erschaffen im Kontext der kreativen Person sehen muss. Wenn kleine Kinder etwas zum ersten mal tun, ist das höchst kreativ, wenn gelangweilte Yogaschnatzen – sorry, ich hab mich wohl gerade auf die eingeschossen – ihren Raum mal emotional ganz frei in flieder statt in blassrosa streichen, weil sie das im benachbarten Studio so schön fanden, vielleicht eher nicht. Auch wenn sie es gern so nennen, Du.
(Wohingegen die erste, die fliederfarben wählte, kreativ war; alle, die es nur kopieren nicht.)

Je mehr ich tippe – wussten Sie eigentlich, dass Sie mir hier oft wirklich live beim Denken zusehen können? – denke ich, dass es das wirklich auch schon sein sollte. Auch wenn wir „kreativ“ als Berufsbezeichnung für eine ganze Branche benutzen, auch wenn wir längst ein Wertesystem darum gebaut haben und es die wahren Kreativen gibt, die natürlich viel besser sind als die, die einer Bastelanleitung aus der neusten Ausgabe des Flow-Magazins folgen: Wer für sich etwas erschafft, was neu oder nützlich oder schön oder anregend ist, die ist kreativ. Ob Nutzen oder Schönheit dann von allen so gesehen werden, ob es alle anregt oder ob es wirklich neu ist – das entscheidet dann der Markt. Sorry, Herr Lindner, Sie sind hier trotzdem nicht willkommen; sorry liebe Leserin, mich reitet wohl gerade ein alberner Frosch im Nacken.
Webdesign-Agenturen, die ihren Kundinnen ein beliebiges WordPress-Theme aufschwatzen finde ich also deutlich weniger kreativ als den Teenager, der im DM im Vorbeigehen eine S-S-S-Studioline-Dose gesehen hat und zu Hause dann ein Papier mit schwarzen Strichen aufteilt, einzelne Flächen rot und gelb füllt und Kompositionen ausprobiert.

Und dann fällt mir da noch der Tag ein, an dem unser Gitarrist damals aufgeregt ins Studio kam – er hatte am Vormittag einen neuen Song geschrieben, er war quasi fertig, was uns allen seltenst gelang und er fühlte sich gut an, richtig gut sogar und er wollte, nein: musste ihn uns sofort vorspielen. Er holte die Gitarre raus, spielte los, sang den schon erschreckend weit gediehenen Text und blickte am Ende stolz in die kleine Runde (unser Drummer war noch nicht da)
Sag Du es ihm“, befiehlt die Sängerin und verlässt den Raum. „Was sagen?“ fragt der Saitenmeister.
Du äh … also … nee, echt schön. Aber Du hast »Jessie« geschrieben“ druckse ich herum. Er guckt groß, beginnt „From a phone booth in Vegas Jessie calls at 5 a.m. – to tell how she’s tired …“ zu singen. Stockt, guckt noch größer und geht wortlos eine rauchen.
War der den ganzen Tag über jetzt nicht kreativ?

Was ein Glück, dass die Frage nur nach Kreativität fragt und nicht nach ihrem Wert (nein, das werde ich nicht beantworten – es wäre ja auch höchst unkreativ von Ihnen, nach dieser Steilvorlage jetzt zu fragen, nicht wahr?)

Noch kurz: An der Tagebuchfront ist heute Dank eines verdorbenen Magens nicht viel passiert. Nur morgens waren wir an einem niedlichen Bächlein spazieren, landeten fast in einem fröhlichen Familienfest im Freizeitzentrum und das war alles so lange echt nett, bis die Schützenkapelle zu spielen begann und ich mich wieder erinnerte, warum ich dieses reaktionäre, bräsige Sauerland in seiner „war schon immer so“-Unbeweglichkeit so hasse. Ich meine: Im jahr 2024 eine militarische Marschmusik-Kapelle auf dem Familienfest? Gehts noch?

Tja. Vi ses.

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